Das 1,5 Grad-Ziel umsetzen: Wir fangen schon mal an

160427_ROBINWOOD_Stockholm_603.jpg

 Protest von ROBIN WOOD-Aktiven in Stockholm gegen Vattenfalls Energiepolitik 2016
Protest von ROBIN WOOD-Aktiven in Stockholm gegen Vattenfalls Energiepolitik 2016.
Foto ▸ Christian Åslund

26896235462_c00e481c27_o.jpg

"Ende Gelände"-Proteste im Lausitzer Kohlerevier im Mai 2016
"Ende Gelände"-Proteste im Lausitzer Kohlerevier im Mai 2016.
Foto ▸ Ende Gelände

26970699846_9163783ba4_o.jpg

"Ende Gelände"-Proteste im Lausitzer Kohlerevier im Mai 2016
"Ende Gelände"-Proteste im Lausitzer Kohlerevier im Mai 2016.
Foto ▸ 350.org/Tim Wagner

26900092772_7e31f009e2_o.jpg

"Ende Gelände"-Proteste im Lausitzer Kohlerevier im Mai 2016
"Ende Gelände"-Proteste im Lausitzer Kohlerevier im Mai 2016.
Foto ▸ 350.org/Tim Wagner

Als im Dezember 2015 auf dem UN-Klimagipfel das „Paris Agreement“ beschlossen wurde, feierte die Welt: Staatschefs klopften sich auf die Schulter, einige Umweltverbände wie Germanwatch und der WWF lobten die Delegierten und medial wurde der „diplomatische Erfolg“ des Gipfels gepriesen. Mit der Verabschiedung eines Vertragstextes, der dem Kyoto-Protokoll nachfolgt und ambitionierte Klimaziele formuliert, hatte seit dem gescheiterten Klimagipfel in Kopenhagen kaum noch jemand gerechnet. Aber besser hätte man das eigentliche Scheitern der Klimadiplomatie nicht kaschieren können: Denn wenn Staatschefs sich dafür auf die Schulter klopfen, dass sie die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5°C beschließen und gleichzeitig nationale politische Maßnahmen zusagen, die auf eine Erwärmung von über 3°C hinaus laufen, bleibt der diplomatische Erfolg ohne materielle Relevanz. [Ein Beitrag in unserer Debattenreihe „Climate Justice how? – Die Klimagerechtigkeitsbewegung nach dem Pariser Abkommen“]

War es vorher noch nicht deutlich, ist der Pariser Klimavertrag die letzte Bestätigung, dass über den Klimawandel nicht auf den Bühnen der internationalen Klimadiplomatie entschieden wird. Stattdessen muss die Zivilgesellschaft weltweit selbst aktiv werden: Mit Aktionen zivilen Ungehorsams gegen fossile Infrastruktur fordert sie konkrete Klimapolitik ein und übt zugleich strukturelle Kritik am System des Kapitalismus.

Die Erderwärmung muss auf 1,5 Grad begrenzt werden

Der Beschluss des 1,5°-Ziels macht deutlich, welch hohe Legitimität ihm zugeschrieben wird. Die Fakten sprechen eine deutliche Sprache: Wissenschaftler*innen haben sogenannte Klima-Kipppunkte identifiziert. Es handelt sich dabei um Momente, in denen die Erderwärmung Prozesse initiiert, die unumkehrbar sind und die zugleich den Klimawandel verstärken. Mit dem Erreichen der Kipppunkte droht ein Klimachaos. Der Mensch hätte – selbst wenn er wollte – kaum noch Einfluss auf das weitere Geschehen. Einer dieser Kipppunkte ist das Schmelzen des arktischen Meereises. Das dabei entstehende Wasser speichert mehr Wärme als Eis und beschleunigt somit die Erwärmung. Gleichzeitig wird durch die Erwärmung das im Meerwasser gespeicherte CO2 freigesetzt, das den Klimawandel zusätzlich antreibt. Insgesamt haben Klimawissenschaftler*innen neun dieser Kipppunkte ermittelt, die ab einer Erwärmung von 0,5 bis 5 °C sich selbst verstärkende Erwärmungsdynamiken anstoßen.1 Soll der Klimawandel in einem kontrollierbaren Bereich gehalten werden, muss die Erwärmung unterhalb des kritischen Bereichs gehalten werden.

Die Forderung nach der Begrenzung der Klimaerwärmung um 1,5 °C hat für die Klimagerechtigkeitsbewegung besondere Legitimität, weil sie vor allem von Menschen aus dem Globalen Süden2 eingebracht wurde. Es ist eine Frage globaler Gerechtigkeit, diese Forderung durchzusetzen. Denn der Klimawandel wurde vor allem von Staaten im Globalen Norden während der Industrialisierung initiiert. Auch heute noch sind diese Industriestaaten, inzwischen ergänzt um einige Schwellenländer, für das Gros der CO2-Emissionen verantwortlich: Allein die G20-Länder verantworten heute 80 bis 85 Prozent des weltweiten Ausstoßes. Die Konsequenzen des so befeuerten Klimawandels aber müssen vor allem Menschen im Globalen Süden tragen: Der Meeresspiegelanstieg bedroht schon heute die pazifischen Inselstaaten Kiribati, Tuvalu und die Marshall-Inseln. Die meisten dieser Inseln liegen höchstens zwei Meter über dem Meeresspiegel, was mittelfristig die Existenz der ganzen Staaten, heute aber schon viele Ortschaften und Süßwasservorräte bedroht. Die teilweise besonders vulnerablen Pazifikstaaten haben sich im Pacific Islands Development Forum (PIDF) als eigene Verhandlungsgruppe zusammengeschlossen und vor den Pariser Klimaverhandlungen die „Suva Declaration“ verabschiedet. Neben dem 1,5°-Ziel fordern sie ein „internationales Moratorium über die Entwicklung und Erweiterung fossiler Energieindustrien, insbesondere den Bau neuer Kohleminen.“ Aufgrund der historischen Verantwortung der Staaten des Globalen Nordens ist es aus Sicht der Klimagerechtigkeitsbewegung unsere Verantwortung, das 1,5°- Ziel aufzugreifen und in unsere Kontexte zu übersetzen.

1,5 Grad bedeutet radikalen gesellschaftlichen Wandel

„Denn sie wissen nicht, was sie tun“ betitelte Gerrit Hansen den Auftakt der vorliegenden Debattenreihe zum 1,5°- Ziel. Sie beschrieb, dass schon vor eineinhalb Jahren abzusehen war, dass dieses Grad-Ziel kaum noch zu erreichen sei. Die Menge an Kohlendioxid, die wir global noch ausstoßen dürften, haben wir bei der momentanen Entwicklung in fünf Jahren erreicht. „Um das 1,5°-Budget nicht zu überschreiten,“ so Hansen „müsste eine beispiellose Umbaugeschwindigkeit an den Tag gelegt werden. Bei Annahme linearer Reduktion müssten die globalen Emissionen ab sofort kontinuierlich um 10 Prozent pro Jahr sinken“ – eine historisch nie erreichte Reduktion.

Meinen wir 1,5 Grad als Begrenzung der Erderwärmung also ernst, wird überdeutlich, dass ein radikaler gesellschaftlicher Wandel stattfinden muss, und zwar schnell. Fast alle gesellschaftlichen Bereiche müssen umgestaltet werden: Fossile Energieträger wie Öl, Gas und Kohle müssen aus dem Verkehrs-, Wohn- und Heizbereich sowie der Energieerzeugung verschwinden und durch erneuerbare Energien ersetzt werden. Da dies mit unseren begrenzten Ressourcen nicht vollständig möglich sein wird, muss der Energiebedarf in allen gesellschaftlichen Bereichen verringert werden. Andere emittierende Sektoren, wie die industrielle Landwirtschaft, müssen sich ebenso wandeln. Es gäbe keine Arbeit mehr in fossilen Unternehmen; kaum Flugreisen, bis es dafür klimaneutrale Alternativen gibt, stattdessen Bahnreisen; regionales Gemüse statt Südfrüchte; ein begrenztes Kontingent an Energie. Auch die nationale und internationale Politik müssen vollkommen neu ausgerichtet werden. Klimaschutz muss Priorität haben – auch gegenüber den Interessen der Landwirtschafts-, Kohle- und Automobilindustrie.

Wollen wir den Klimawandel langfristig aufhalten und seine Ursachen bekämpfen, müssen wir unsere kollektive Lebensweise radikal ändern. Unser persönliches Leben im Globalen Norden ist eingebettet in globale Machtgefälle (vgl. dazu den Beitrag von Ulrich Brand in dieser Reihe). Wir können hier nur Südfrüchte konsumieren, weil andere Menschen sie in teils ausbeuterischen Verhältnissen anbauen und sie dann – nicht CO2-neutral – hierher transportiert werden. Auch in vielen anderen Bereichen sind die weltweiten Strukturen so angelegt, dass wir im Globalen Norden oft nicht nur über unsere eigenen, sondern vor allem über die Verhältnisse der Menschen im Globalen Süden leben. Die Lebensweise, an die wir uns dabei gewöhnt haben, ist maßgeblich für den Klimawandel verantwortlich.

Wir müssen jetzt gemeinsam handeln!

Sieht man diese Konsequenzen des 1,5 Grad Ziels an, wird deutlich, warum die Klimadiplomatie zum Scheitern verurteilt ist: Der notwendige Wandel ist zu tiefgreifend, als dass er auf den Bühnen internationaler Klimadiplomatie beschlossen werden könnte. Er muss viel mehr von unten kommen und sich entwickeln. Die Klimagerechtigkeitsbewegung setzt deshalb auf eine Doppelstrategie, die gleichzeitig konkreten politischen Druck aufbaut und grundsätzliche Systemkritik artikuliert. Das Bündnis „Ende Gelände“ organisiert seit 2015 Massenaktionen zivilen Ungehorsams in den deutschen Braunkohlerevieren, um den „sofortigen Kohleausstieg“ einzufordern und den Klimawandel an den Orten zu verhindern, an denen er entsteht. Der Ausstieg aus der Braunkohle als emissionsreichstem fossilen Brennstoff ist die direkte Übersetzung des 1,5°-Ziels in konkrete Politik. Er ist geboten und möglich, „Ende Gelände“ fordert ihn öffentlichkeitswirksam ein. Der bewusste Verstoß gegen rechtliche Normen ist dabei kalkuliert und macht die Dringlichkeit des Wandels sowie die Radikalität der Forderung klar.

In diesem Jahr protestieren die Aktivist*innen unter dem Slogan „Wir schaffen ein Klima der Gerechtigkeit“ dafür, globale Gerechtigkeit und Klimaschutz zusammen zu denken. Sie fordern eine klimagerechte Welt, in der unser Leben nicht auf der Ausbeutung von Natur und Menschen vor allem im Globalen Süden basiert. Der erste Schritt in diese Richtung ist, die Nutzung der Braunkohle einzustellen, weitere Schritte werden folgen. Es gilt keine Zeit zu verlieren. Reine Zahlen in politischen Abkommen werden den Klimawandel nicht verhindern. Nur wenn wir gemeinsam handeln, können wir die Zahlen mit konkreten Inhalten und Lebensalternativen füllen. Und dann wissen wir nicht nur, dass sich unsere Gesellschaft radikal ändern wird, sondern wir können auch gestalten, wie.

 

http://www.klimaretter.info/tipps-klimalexikon/6070-kipp-elemente
2  „Globaler Norden“ und „Globaler Süden“ beschreiben keine geografischen Gebiete: Mit dem Begriff Globaler Süden wird eine im globalen System benachteiligte gesellschaftliche, politische und ökonomische Position beschrieben. Globaler Norden hingegen bestimmt eine mit Vorteilen bedachte, privilegierte Position. Die Einteilung verweist auf die unterschiedliche Erfahrung mit Kolonialismus, Industrialisierung und Ausbeutung, einmal als Ausgebeutete und einmal als Profitierende. Definition nach https://www.brebit.org/Page0/Begrifflichkeiten/Globaler-Sueden-Globaler-...