Dem Danni so nah

Vermummung, schwarze Gesichtsbemalung, Kunstnamen: So schützen Aktivist*innen im Dannenröder Wald ihre Identität. An ihrem Mensch-sein ändert das nichts – behandelt sie auch so.

„Wenn ihr am Sonntag in den Wald kommt, könnt ihr bitte bitte noch Kameras mitbringen? Presse und unparteiische Beobachter*innen werden oft nicht durchgelassen. Kameras sind unser einziger Schutz...“
Ich schlucke. Die Absenderin der Textnachricht ist eine enge Freundin. Noch bis vor kurzem haben wir uns häufig gesehen und gemeinsam über die Uni, Liebe und Freunde gelacht. Dann begann die Besetzung im Dannenröder Wald.

Die Besetzung vor unserer Haustür

Der Dannenröder Wald ist nur eine kurze Zugreise und ein paar Minuten mit dem Fahrrad von Marburg entfernt. Marburg ist eine politische Student*innen-Stadt. Viele hier haben die Besetzung von Anfang an begleitet und mitaufgebaut. Das Aktionsbündnis Wald statt Asphalt wurde ins Leben gerufen und es organisierte Petitionen, Info-Veranstaltungen und Fahrrad-Demos. Wer hätte geahnt, dass die Corona-bedingte Umstellung auf Online-Vorlesungen es Menschen ermöglicht, Baumhäuser zu besetzen und gleichzeitig ihr Studium fortzuführen?
Meine Freundin engagiert sich. Immer öfter fährt sie für ein paar Tage in den Wald. Dort ist es anfangs fast ein bisschen wie ein Abenteuerspielplatz, eine Möglichkeit, endlich viel draußen und handwerklich aktiv zu sein. Doch mit der Zeit wird die Waldbesetzung für immer mehr Menschen zu einem Zuhause. Ein Ort abseits von den Zwängen der Leistungsgesellschaft. Lagerfeuer statt Smartphone, echte Diskussionen, lebendiges Miteinander, Bewusst-Sein. Ein Ort, an dem neue Formen des Zusammenlebens erprobt werden. Eine Utopie unseres Zeitgeistes.

Der Traum ist aus

Dann kam es mit unerwarteter Härte. Massenweise Polizei im Wald, gepanzert, gleichförmig, bedrohlich. Über Monate wurde auf allen erdenklichen legalen Wegen protestiert und gekämpft und doch konnte der Räumungsbefehl nicht verhindert werden. Das Gefühl der Ungerechtigkeit ist unerträglich. Mehr und mehr Freundinnen und Freunde entschließen sich, bei Aktionen des zivilen Ungehorsams mitzumachen und sich der Polizei und der Rodungs-Maschinerie in den Weg zustellen.
Auf Presse-Fotos sieht man sie mit schwarzer Gesichtsbemalung in Hängematten sitzen, oben in den Baumkronen, auf Tripods oder in den Baumhäusern. Sie sind mit Kameras ausgestattet, weil sie das Gefühl haben, sich vor unverhältnismäßiger Polizei-Gewalt schützen müssen. Waren sie nicht vor wenigen Monaten noch brave Studierende und die Polizei ihr Freund und Helfer?
Die Räumung beginnt. Gerodet wird zeitgleich. Bäume fallen, nicht selten nur Armlängen von den Aktivistinnen und Aktivisten entfernt. Durch die Unterschreitung von Sicherheitsabständen geht die Rodung so viel schneller als erhofft. Zuerst fällt der Maulbacher-, dann der Herrenwald. Jetzt, seit bald zwei Wochen, tobt der Kampf im Danni, dem zentralen Kern der Besetzung.

Die Bäume fallen

Im Oktober war meine Freundin für eine kurze Erholungspause in Marburg. Mit viel Mühe schrubbt sie den Edding aus dem Gesicht. Darunter sieht sie abgekämpft aus. An eine Tasse Tee geklammert erzählt sie mir vom stundenlangen Ausharren in der Kälte, oben in ihrer Hängematte. Nur ein paar Bäume weiter besetzen Minderjährige der Fridays for Furture Bewegung eine Plattform. Man winkt sich zu.
Dann die Räumung. Ohne größere Gefühlsregungen berichtet sie, wie die Polizei bei ihnen ankommt. Von Schmerzgriffen, die Polizist*innen anwenden, um sie und die anderen von ihren Hängematten und Plattformen loszubekommen. Vom herumgeschubst werden. Von stundenlangen Warten in Mini-Zellen im Transporter der Gefangen-Sammelstelle, Gesa genannt. Vom isoliert sein. Davon, dass sie nicht einmal unbeobachtet auf die Toilette gehen darf.
Nach etwa 6 Stunden wird sie freigelassen, weil ihre Identität nicht ermittelt werden kann und der Tatbestand nur eine Ordnungswidrigkeit ist, für die man sie nicht länger festhalten darf. All das nimmt sie ohne großes Zögern auf sich, nur, um die Rodungen so lange wie möglich aufzuhalten.
Doch sie kann nicht abschalten. Andauernd sichtet sie Berichte über die voranschreitende Rodung des Herrenwaldes. In einem Video auf Twitter ist die Fällung zweier alter Eichen zu sehen.
Die Bäume fallen. Mit ihnen fallen die Tränen. Am nächsten Tag fährt sie zurück in den Wald.

Aus Traum wird Trauma

In der zweiten November-Woche fahre ich zur Sonntags-Kundgebung in den Wald. Die Medienberichte haben sich derart zugespitzt, am Morgen ist eine Aktivistin bei einem Sturz verletzt worden.
Inzwischen hat die Polizei eingeräumt, dass ein Sicherungsseil von einem Polizisten gekappt wurde.
Ich bin in großer Sorge um meine Freundinnen und Freunde im Wald, muss sie sehen, muss mich davon überzeugen, dass es ihnen gutgeht.
In ihrer Vermummung und mit Gesichtsbemalung mögen sie anonym und hart aussehen. Nach außen geben sie sich kämpferisch. Sie arbeiten mit sachlichen Argumenten und eiserner Aktionsbereitschaft. Doch ich kenne einige von denen, die da oben in den Bäumen sitzen. Und natürlich geht es ihnen nicht gut.
Sie empfinden Unverständnis über eine Rechtssprechung, die ihre Belange übergeht. Frustration bei dem Gefühl, dass unsere Welt, unsere Zukunft, immer und immer wieder ausverkauft wird. Wut und Entsetzen, über die Härte und Gewalt, mit der Staat gegen sie vorgeht. Sie empfinden Angst, sich immer wieder unter Gefährdung ihres eigenen Lebens von den Bäumen pflücken zu lassen. Und sie weinen – um jeden einzelnen Baum mehr als um sich selbst.

Das sind Menschen da oben

Der November neigt sich dem Ende. Mich erreichen immer mehr Berichte über unverhältnismäßige Gewalt und Grobfahrlässigkeit von Seiten der Polizei im Dannenröder Wald. Nach mehreren durchtrennten Sicherungsseilen und dem Einsatz von Tasern in luftigen Höhen sehen Aktivist*innen ihr Leben in Gefahr. Um weiterer Grobfahrlässigkeit der Polizei vorzubeugen, veröffentlichen sie jetzt Pläne ihrer Sicherungssysteme und Bauwerke. Unter ihnen sind noch immer viele meiner
Freundinnen und Freunde.
Ihre gewählte Protestform des passiven zivilen Ungehorsams basiert auf dem Vertrauen, dass unsere demokratische Gesellschaft ihnen ein Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit zusichert.
Eigentlich hat die Polizei diesen Grundsatz zu wahren und bei ihren Einsätzen dem Schutz von Menschenleben allerhöchste Priorität einzuräumen. Die vergangenen Wochen im Dannenröder Wald haben dieses Vertrauen erheblich erschüttert. Ich frage mich, wo es noch hinführen soll.

Meine Forderungen sind klar: Der Schutz von Menschenleben muss oberste Priorität haben. Bei Räumungen müssen Sicherheit und Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Presse und unparteiliche Beobachter*innen müssen zum Schutze aller Beteiligten durchgelassen werden.

Und bitte bitte:
Rettet den Dannenröder Wald. Es geht hier um weit mehr als um eine Autobahn.