Über das System reden, nicht über Zahlen!

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"Coal & Boat"-Demonstration in Berlin (Juli 2016)
"Coal & Boat"-Demonstration in Berlin (Juli 2016)
Foto ▸ Erik Marquardt

Die internationalen Klimaverhandlungen haben vor gut einem Jahr mit der Vereinbarung von relativ ambitionierten Zielen überrascht, darunter das Ziel, den Temperaturanstieg auf 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Allerdings ist aus Sicht sozialer Bewegungen nicht nur zu kritisieren, dass den vollmundigen Ankündigungen zu wenige Taten folgen. Es ist auch zu befürchten, dass viel über technische Emissionspfade geredet wird und wenig darüber, wie ein gutes Leben für alle erkämpft und eine sozial-ökologische Transformation eingeleitet werden kann. [Ein Beitrag in unserer Debattenreihe „Climate Justice how? – Die Klimagerechtigkeitsbewegung nach dem Pariser Abkommen“]

Das Paris Agreement vom Dezember 2015 enthält das Ziel, dass der „Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2°C über dem vorindustriellen Niveau gehalten wird und Anstrengungen unternommen werden, um den Temperaturanstieg auf 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen“. Das 1,5°C-Ziel wurde maßgeblich auf Betreiben von Ländern des globalen Südens aufgenommen und ist ein Zeichen der Anerkennung dafür, dass ungebremster Klimawandel für viele Menschen und Länder sowie Ökosysteme inakzeptable Konsequenzen haben würde.

Soweit Staaten mit dem Ziel den Willen verbinden, auch auf nationaler Ebene ambitionierte Klimaschutzmaßnahmen und die dafür nötigen Transformationsprozesse anzustoßen, ist das Ziel als Orientierung für staatliche Politik und als mögliches Signal an Unternehmen nicht falsch. Falls es beispielsweise dazu kommen sollte, dass im Hinblick auf das 1,5°C-Ziel notwendige Maßnahmen wie der Kohleausstieg in Deutschland schnell vorangetrieben und damit Forderungen der Klimabewegung aufgenommen werden,wäre das zu begrüßen.

Derzeit sieht es allerdings so aus, als ob die von verschiedenen Ländern definierten Maßnahmen für Emissionsreduzierungen noch nicht einmal ausreichen, um den Klimawandel auf 2°C zu begrenzen. Immerhin kann die Klimagerechtigkeitsbewegung mit Verweis auf das Abkommen von Paris aufzeigen, dass viele politische Entscheidungen im direkten Widerspruch zu auf nationaler und internationaler Ebene formulierten Klima-Zielen stehen. Trotzdem und unabhängig davon wie die realpolitischen Chancen aussehen, bestimmte Gradziele zu erreichen, halten wir das 1,5°C-Ziel (ebenso wie das 2°C-Ziel) für nicht geeignet, einen zentralen Bezugspunkt für soziale Bewegungen zu bilden. Das ist die Kernthese unseres Beitrags.

Während das 1,5°C-Ziel einen Appell-Charakter für globale Entscheidungsträger hat, sollte es sozialen Bewegungen darum gehen, den sozial-ökologischen Umbau zu einer klimagerechten Gesellschaft voranzutreiben. Ein Systemwandel ist auch unabhängig vom Klimawandel nötig, da unser kapitalistisches System schlicht und einfach für viele Menschen und die Natur nicht funktioniert. Der Klimawandel ist ein zusätzlicher Grund,die nötigen Transformationsprozesse so schnell und radikal wie möglich anzugehen; diese Erkenntnis ist aber unabhängig von irgendwelchen konkreten Gradzielen.

Es gibt weitere gute Gründe, warum soziale Bewegungen den Gradzielen der internationalen Klimapolitik nicht allzu viel orientierende Bedeutung für ihre eigenen Aktivitäten beimessen sollten. Diese haben auch damit zu tun, welche Politikmodelle und Werte mit bestimmten politischen Zielen transportiert werden (1) – und diejenigen, die mit gradgenauen Klimazielen verbunden sind, sind nicht unbedingt emanzipatorisch.

„Die Begrenzung auf das 1,5-Grad-Ziel reicht nicht. Es geht um ein gutes Leben für Alle.“



Ein erster Grund ist, dass selbst wenn es gelänge, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf 1,5°C zu begrenzen,das nicht bedeuten würde, dass alles für alle Menschen gut ist. Der Klimawandel trifft voraussichtlich nicht nur einige Regionen stärker als andere, sondern die Armen mehr als die Reichen,die Kleinbäuerin im globalen Süden mehr als den Bankdirektor im globalen Norden etc. Die Aufgabe emanzipatorischer linker Bewegungen ist es aus unserer Sicht, die Existenz und die Ursachen für solche Ungleichheiten – ob im Zusammenhang mit dem Klimawandel oder in anderen Zusammenhängen– immer und immer wieder zu kritisieren und Visionen zu entwickeln, wie ein anderes,besseres Leben für Alle aussehen könnte.

Zweitens wird mit gradgenauen Zielen die Diskussion stark in eine Richtung gelenkt, die von Emissionsminderungsszenarien und den dafür notwendigen technischen Innovationen geprägt ist. Zu den häufig vorgeschlagenen technischen Maßnahmen gehören u.a. die Abscheidung und unterirdische Speicherung von Treibhausgasen (bekannt unter dem Kürzel CCS) sowie die Nutzung von Nuklearenergie. Verbunden mit den Vorschlägen für die Nutzung solcher Technologie ist eine starke Technikgläubigkeit.Vergangene Katastrophen auf Grund solcher Großtechnologien werden dabei ignoriert, und es wird davon ausgegangen,dass bestimmte technische Erfindungen rechtzeitig gemacht werden. Sowohl die 1,5°C als auch 2°C-Szenarien kommen zudem meist nicht ohne das Konzept „negativer Emissionen“über Bioenergy Carbon Capture and Storage (BECCS) aus.

Dabei soll Biomasse angebaut und das bei der anschließenden Verbrennung freigesetzte CO2 unterirdisch gespeichert werden. Je nach Schätzung werden für die Biomasseproduktion Landflächen bis zur doppelten Größe Indiens benötigt. Hier offenbart sich ein (neo-)kolonialer Blick auf Landflächen, von denen angenommen wird, dass sie für die Lösung globaler Probleme zur Verfügung stünden. Dabei werden die Bedürfnisse der Menschen ausgeblendet, die ihre Lebensgrundlage und Identität mit diesem Land verbinden und bereits ohne die zusätzliche Nachfrage durch BECCS um den Zugang zu Landkämpfen müssen. Aus unserer Sicht befördert keiner dieser Ansätze den Umbau derjenigen gesellschaftlichen Verhältnisse,die den Klimawandel hervorgebracht haben – sie bestärken sie ganz im Gegenteil noch.

Die Gründe, warum der Umbau unseres Wirtschaftssystems ausbleibt, werden dagegen nur unzureichend thematisiert. Das Hauptproblem bei der Bekämpfung des Klimawandels scheint uns aber nicht zu sein, dass nicht bekannt wäre, was eigentlich getan werden müsste, sondern dass es nicht passiert. Das liegt an Faktoren wie Machtverhältnissen, fehlendem politischen Willen sowie fehlender Bereitschaft zur Abkehr vom wachstums- und profitorientierten Wirtschaftsmodell. Aufgabe von sozialen Bewegungen ist aus unserer Sicht, diese Situation und ihre Gründe deutlich zu machen und die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu ändern, damit der notwendige radikale Umbau eingeleitet werden kann. Aus unserer Sicht sind deswegen Forderungen, die es möglichst vielen Menschen erlauben würden, auch bei geänderten klimatischen Bedingungen ein möglichst gutes Leben zu führen, richtig. Dazu gehört zum Beispiel diejenige nach globaler Bewegungsfreiheit, so dass jeder Mensch, an einem selbst gewählten Ort auf dem Planeten leben kann. Solche Forderungen finden sich aber in Emissionspfadstudien nicht. Auch Visionen eines guten Lebens für alle sowie dazu, wie mensch den Kapitalismus, der (Mit)Ursache des Klimawandels ist, loswird, fehlen regelmäßig.

Drittens sind die Gradziele mit deutlich größeren Unsicherheiten behaftet, als es ihre Prominenz im politischen Diskurs nahelegt. Unsicherheiten bezüglich Geschwindigkeit, genauen Auswirkungen und Ausmaß des Klimawandels sind in wissenschaftlichen Studien wie beispielsweise denjenigen des Weltklimarats (IPCC) benannt, fallen aber in politischen Diskussionen gerne unter den Tisch. Gradziele sind eine politische Setzung, werden aber nicht klar als solche benannt. Dies ist unter anderem deswegen problematisch, weil die Konzentration auf Gradziele häufig zur Folge hat, dass gesellschaftliche Veränderung in einer bestimmten Weise gedacht wird: eine technokratische Elite legt auf Grund von Rechenübungen zu Kohlenstoffbudgets fest, was zu tun ist und setzt dies mit Hilfe von machtvollen Institutionen, die bislang eher Ursache des Problems als Teil der Lösung waren, durch. Das erscheint uns nicht wünschenswert. Transformationsprozesse – auch solche radikaler Art – können letztendlich nur das Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse sein bzw. zumindest mit der Zustimmung eines größeren Teils der Bevölkerung erfolgen. Möglicherweise heißt das, dass der klimafreundliche Umbau von Gesellschaften mehr Zeit braucht, als laut Emissionspfadstudien zur Verfügung steht, um das 1,5°C-Ziel zu erreichen. Es wäre fatal, wenn das Ziel dazu missbraucht würde, umfassende gesellschaftliche Transformation und die dafür notwendigen Aushandlungsprozesse mit Verweis auf den zu kurzen Zeithorizont als unrealistisch abzulehnen.

Das 1,5°C-Ziel mag also im Paris Agreement gut aufgehoben sein – ob es auch zu ambitioniertem Klimaschutz führt, ist noch unklar. Soziale Bewegungen sind allerdings gut beraten, das Ziel nicht auf ihre Fahnen zu schreiben, sondern sich stattdessen für sozial-ökologische Transformationsschritte einzusetzen, deren Wichtigkeit und Konturen auch ohne gradgenaue Ziele schon lange mehr als deutlich sind.

(1) Vgl. dazu Smart CSOs Lab, Reimagining Activism – A Practical Guide for the Great Transition, S.16ff
 

Johannes Reis und Christiane Gerstetter sind unter anderem im Arbeitsschwerpunkt gesellschaftliche Naturverhältnisse der Bundeskoordination Internationalismus aktiv (www.buko.info).