Russische Atommüll-Politik
Kein sicheres Endlager in Sicht
Der russische Anti-Atom-Aktivist Andrey Ozharovskiy reiste mit ExperInnen seines Landes durch Westeuropa, um einen Eindruck vom dortigen Umgang mit hoch radioaktiven Abfällen und von Beteiligungsverfahren bei Endlagerprojekten zu erhalten. Die Gruppe sprach mit Betroffenen, PolitikerInnen, ExpertInnen und zivilgesellschaftlichen Organisationen in Deutschland, Finnland, Schweden und Frankreich. Daniel Häfner nutzte die Gelegenheit, um von Andrey Ozharovskiy aktuelles zum russischen Umgang mit radioaktiven Abfallstoffen sowie zur Situation der russischen Anti-Atom-Bewegung und ihrer Aktivitäten zu erfahren. Andrey ist Lehrer und arbeitet als Experte für die Umweltschutzorganisation Bellona.
? Was sind denn deine zentralen Erkenntnisse eurer Informationsreise?
! Nun, ich habe bestätigt bekommen, dass Russland weit hinter den internationalen Entwicklungen zurückliegt. Ich meine damit zunächst gar nicht die endgültigen Entscheidungen für den Umgang mit nuklearen Abfallstoffen, sondern die Verfahrensweisen und die Rollen von Zivilgesellschaft sowie unabhängigen ExpertInnen in den Verhandlungen, die uns bevorstehen. Derzeit liegt das Management der radioaktiven Abfälle in Russland fast ausschließlich in den Händen der Nuklearindustrie.
Die Zivilgesellschaft insgesamt und speziell die Anti-Atom-Bewegung befinden sich in einer sehr schwachen Position. Die Regierung versucht uns klein zu halten, sie begrenzt alle unabhängigen Aktivitäten. Das Ministerium für Gerechtigkeit hat alle befreundeten Organisationen u.a. aus Irkutsk, St. Petersburg und Murmansk als sogenannte „ausländische Agenten“ gelistet. So werden NGO bezeichnet, die im Interesse eines anderen Staates handeln. Wenn eine NGO jemals Geld aus dem Ausland erhalten hat und im politischen Bereich arbeitet, dann ist sie ein „ausländischer Agent“. Wir sind aber doch keine politische Partei, die um Macht kämpft. Wir versuchen politische Entscheidungen zu beeinflussen. Aber bereits die Teilnahme an öffentlichen Anhörungen zum Umgang mit radioaktiven Stoffen wird als politische Aktivität eingestuft, und so hat das Ministerium nun Gruppen als „ausländische Agenten“ gelistet, die daran teilgenommen haben.
Wir sind also in einer relativ schwachen Position. Das liegt im Wesentlichen auch daran, dass wir in Russland nicht die Standards von Offenheit, Transparenz und Beteiligung kennen, wie ich sie in anderen Ländern kennengelernt habe.
? Gibt es in Russland eine öffentliche Debatte zum Umgang mit den radioaktiven Abfällen?
! Nein. Die Industrie nutzt einfach die aktuelle Gesetzeslage, die keine spezifischen Bestimmungen für radioaktive Abfälle oder nukleare Aktivitäten vorsieht. Solche Anlagen werden daher wie lokale Chemiefabriken behandelt. Der offizielle Diskussionsprozess dauert dann ein bis zwei Monate, aber die Debatte findet lediglich auf regionaler Ebene statt. Das ist eine schreckliche Situation, wenn der nationale „Friedhof“ für hoch-radioaktive Abfälle in der Region Krasnojarsk (östlich des Urals, 4.100 Kilometer östlich von Moskau) ausschließlich in der Gemeinde Schelesnogorsk diskutiert wird. Das widerspricht der Praxis in anderen Staaten. In Finnland hat immerhin das Parlament entschieden. In Deutschland wurden mit der Endlager-Kommission auch Externe und NGO beteiligt. In Frankreich gab es eine“debate publique” auf nationalstaatlicher Ebene.
Wir sind letztendlich ohne große Debatte bei der Umsetzung eines unterirdischen Versuchslabors in Schelesnogorsk angekommen.
Endlager nahe einer „geschlossenen Stadt“
? Wie wurde der Standort nahe Schelesnogorsk ausgewählt und warum soll das ein geeigneter Standort sein?
! Mir wurde auf meine Anfrage hin von offizieller Seite geantwortet, dass Hunderte von Standorten in verschiedenen Regionen des Landes überprüft wurden, aber ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich wahr ist. Der Standort wurde definitiv gewählt, weil er bereits der Nuklearindustrie gehört. Er liegt in der Nähe einer nuklearen Anlage und der geschlossenen Stadt Schelesnogorsk. Ich weiß, dass es das in anderen Ländern nicht gibt, aber wir haben Gemeinden, die für Besucher hermetisch abgeschlossen sind. Die Nuklearfabrik dort heißt „Mountain Chemical Combine“, die dem Namen nach nichts mit Atomtechnologie zu tun hat. Es gab dort mehrere Plutoniumreaktoren und eine Aufbereitungsanlage. Auch Atombomben wurden dort produziert. Da die Anlagen geschützt in einem Felsen liegen, hätten sie auch eine Bombardierung mit Atombomben überstanden.
Die Reaktoren sind seit 2010 heruntergefahren und werden derzeit im Inneren des Felsens versiegelt. Für die Einheimischen ist der Standort also bereits ein nuklearer Friedhof. Deshalb ist es für sie auch leichter, ein Endlager zu akzeptieren. Für Rosatom, dem staatseigenen Unternehmen, unter dessen Dach fast alle nuklearen Anlagen organisiert sind, ist es so definitiv einfacher, Akzeptanz zu bekommen. Die öffentlichen Anhörungen waren sowieso eher ein Treffen von Fabrikangestellten.
? Viele Menschen dort arbeiten für die Nuklearindustrie. Das wirkt, als wären die Ergebnisse des Beteiligungsverfahrens dann sehr positiv.
! Ja, das ist so. Ich selbst konnte dort gar nicht teilnehmen, weil es schwer ist, eine Genehmigung zu bekommen, die Stadt zu betreten. Ich habe aber die Berichte der Veranstaltungen gelesen. Es gab einige kritische Anmerkungen, aber die Mehrheit der Menschen war dem Projekt gegenüber sehr positiv eingestellt.
? Wieso kritisiert ihr den Standort-auswahlprozess insgesamt?
! In Russland gab es keinerlei Debatte über die Methode der Abfalleinlagerung. Weltweit gibt es keine Einigkeit darüber, welches technische Verfahren und welches Wirtsgestein – Ton, Steinsalz oder Granit - das Beste wäre. Rosatom verweist nur darauf, dass ein Endlager gebaut werden soll. Warum das Gesetz dies so festlegt oder wer das Gesetz geschrieben hat, wird nicht diskutiert. Es ist industriefreundlich formuliert und die Hauptaussage ist, dass es kein Problem mit radioaktiven Abfällen gibt, weil diese eben vergraben werden.
? Wie ist der derzeitige Stand der Umsetzung?
! Offiziell wird derzeit von der Umsetzung eines unterirdischen Versuchslabors in Schelesnogorsk gesprochen. Man hatte bereits damit begonnen, das Endlager zu errichten, aber der Prozess wurde durch die NGO verlangsamt und die Betreiber stimmten zu, nun zuerst ein Versuchslabor zu bauen. Das Labor sieht aber genauso aus wie die erste Phase des Endlagers.
Eine andere Frage ist die der Rück-holbarkeit. Das ist sicher einer der Erfolge von Alexander Nikitin von Bellona. Das war seine Botschaft an die Atomindustrie: Wir brauchen Rückholbarkeit! In Russland spricht man nicht von einem „Endlager“, sondern von einem „Punkt des Vergrabens“, der eine Rückholung nicht zwingend impliziert. Mittlerweile gibt aber die Nuklearindustrie zu, dass eine Rückholbarkeit gut wäre – und nun wird sie geprüft. Wichtig ist aber auch, dass wir das definieren, denn die Branche spielt gerne mit Worten: „Wollen Sie eine öffentliche Diskussion – hier haben wir eine öffentliche Diskussion in der geschlossenen Stadt. Wollt ihr Rückholbarkeit? Wir schreiben das auf ein Papier, dass es rückholbar ist. Wir geben Ihnen sogar eine Bescheinigung über die Möglichkeit der Rückholung.“ Wir müssen also unabhängige ExpertInnen finden und einen Weg, wie das überprüft werden kann.
? Das Wirtsgestein ist Granit, der grundsätzlich Risse und Klüfte hat, weshalb es sehr wahrscheinlich ist, dass Wasser in die Lagerungskammern eindringt. Wie soll damit umgegangen werden?
! Ja, es handelt sich um einen 400 Meter hohen Granit-Hügel, der in zwei bis drei Kilometer Entfernung zum Jennisei-Flusses liegt. Mit einer Gesamttiefe von 500 Metern bauen sie das Endlager dann praktisch unter dem Fluss. Dass Wasser eindringt, ist wahrscheinlich. Ich bin aber kein Geologe, und kann das nicht abschließend bewerten.
? Wie sollen die Abfälle gegen das Wasser abgeschirmt werden? In Finnland und Schweden werden ja Lagerbehälter mit Kupfer ummantelt, um sie korrosionsbeständiger zu machen.
! Die Behälter sollen von mehreren Barrieren verschiedener Stoffe umgeben sein, aber nicht mit Kupfer. Die Stahlcontainer sollen mit Ton gefüllt werden und sind nur sechs Millimeter dick. Zum Vergleich: in Skandinavien sind das fünf Zentimeter Kupfer. Ich denke also, dass das Thema der Korrosion hier unterschätzt wird, und befürchte, dass die russische Nuklearindustrie aus den Fehlern anderer Länder nicht lernen wird. Deshalb war es sehr gut, dass wir zu unserer Studienreise einen der Rosatom-Vertreter zur Asse II mitgenommen haben, damit er sich die Probleme anschaut.
? Noch eine Frage zur Entsorgung: Mir ist aufgefallen, dass die russischen nuklearen Abfälle in fest und flüssig unterschieden werden. Warum ist das so?
! Leider haben wir immer noch die Praxis, flüssige radioaktive Abfälle unter Tage zu pumpen. Russland ist das einzige Land in der Welt, in dem das so praktiziert wird. Derzeit geschieht dies an drei Standorten. Diese Praxis lehnen wir als Anti-Atom-Bewegung stark ab. Eigentlich müsste der flüssige Abfall in eine feste Form gebracht werden. Das ist aber angeblich zu teuer. Die gute Nachricht ist, dass gesetzlich festgelegt wurde, diese Praxis nicht auszuweiten.
Wir wissen leider nicht genau, welche Stoffe unter Tage gepumpt werden. Es wird sich im Wesentlichen um schwach- und mittelaktive Stoffe handeln. Dabei ist es aber relativ leicht mit den Kategorien zu spielen, weil die Stoffe einfach weiter verdünnt werden – die Gesamtaktivität bleibt aber natürlich gleich. In den Kernkraftwerken in Kaliningrad und St. Petersburg werden Tritium-Abfälle in den Untergrund gepumpt, aber die offiziellen Stellen behaupten, dass es sich dabei nicht um radioaktive Abfälle handeln würde. Im offiziellen Sprachgebrauch nennt man sie „Tritium enthaltende chemische nicht-nukleare Abfälle“.
? Gibt es noch andere Einrichtungen wie Zwischen- oder Endlager für schwach- und mittelaktive Stoffe?
! Oh ja, da gibt es viele. Die meisten stammen noch aus der Zeit der Sowjetunion und müssen erneuert werden. Aber dafür brauchen wir mehr Zeit. Normalerweise verwandeln sie alte Zwischenlager in Sammelstellen und Endlager, wie in Novouralsk, wo sich eine Urananreicherungsanlage befindet. Sie überführen die oberirdischen Lager dann einfach von der Fabrik an den nationalen Betreiber. Es gibt dann aber zumindest öffentliche Anhörungen, und die Projekte werden veröffentlicht.
Schneller Brüter
? Welchen Technologiepfad schlägt die russische Atomindustrie insgesamt ein. Noch immer ist die Rede von der Schließung des Nuklearen Brennstoffkreislaufs und insofern auch des Einsatzes von Schnellen Brütern.
! (lacht). Das ist das alte Märchen der Nuklearindustrie. Sie sagen immer, dass sie das Problem in ein bis zwei Jahren lösen werden – und sie erzählen das seit über 60 Jahren.
Schnelle Brüter sind keine abfallfreie Technik. Wir haben zahlreiche Erfahrungen mit Schnellen Brütern, beispielsweise mit Blei-Bismut-Reaktoren, die auf insgesamt fünf U-Booten eingesetzt wurden. Es gab da einige Todesfälle, denn es kam sowohl zu Freisetzung von Radioaktivität, als auch zu verschiedenen Problemen mit den Reaktoren. Außerdem steht für die Marine das fehlerfreie Funktionieren der Anlagen an erster Stelle, die radioaktiven Abfälle sind dann nachrangig.
Neben dem Einsatz auf U-Booten haben wir drei Typen von Brut-Reaktoren und niemand weiß, welcher besser ist. Meine Vermutung ist, dass keiner von ihnen gut funktioniert.
Die BN-Reaktoren laufen bereits und sind an das Netz angeschlossen. Der BREST-Reaktor befindet sich am Ufer des Flusses Tom nahe Demitovgrad noch im Bau. Das Projekt wurde gerade zurückgestellt, weil es sehr teuer ist.
Als Wissenschaftler kann ich nicht sagen, dass wir hierzu keine Forschung brauchen, aber diese Projekte sind keine Forschung. Sie sind Prototypen für kommerzielle Reaktoren. Sie ver-brauchen viel Geld, das besser in die Sicherheit radioaktiver Abfälle investiert werden könnte. Deshalb ist es gut, die Projekte zusammen zu diskutieren, weil sie um Geld konkurrieren.
Meine zentrale Frage ist, warum wir so viel Geld für die Atomindustrie ausgeben, wenn wir Sonne und Wind haben. Das größte Problem meines Landes ist, dass wir in Bezug auf erneuerbare Energien weit hinter dem Rest der Welt hinterherhinken, sogar hinter China und Indien. Wir haben einen Anteil von weniger als ein Prozent an erneuerbaren Energien. Ich denke, das ist die derzeit größte Herausforderung für den russischen Energiesektor. Schnelle Brüter sind es definitiv nicht.
? Das wäre ein schönes Schlusswort. Aber ich möchte noch ein Thema ansprechen: Der nukleare Unfall von Majak – einer der größten weltweit – jährt sich dieses Jahr zum sechzigsten Mal.
! Leider muss ich auch hier wieder darauf zurückkommen, wie Druck auf UmweltaktivistInnen ausgeübt wird. Die bedeutendste zivilgesellschaftliche Vertreterin in Majak war Nadezhda Kutepova. Sie war gezwungen das Land zu verlassen und lebt nun als politischer Flüchtling in Frankreich. Sie war als „ausländischer Agent“ bezeichnet worden. Als man die Lehrer ihrer Kinder befragte, ob die Kinder von der Familie getrennt werden sollten – eine Umweltaktivistin könne schließlich keine gute Mutter sein – sah sie sich gezwungen auszuwandern. Das ist ein weiterer Beweis für die großen Probleme der Anti-Atom-Bewegung in Russland, mit denen wir konfrontiert sind.
Das Interview führte und übersetzte Daniel Häfner vom Forschungszentrum für Umweltpolitik (FFU) an der FU Berlin, der lange bei ROBIN WOOD aktiv war. Dörte Themann hat es transkribiert. Kontakt: daniel.haefner [at] fu-berlin.de