Niemand hat die Absicht eine Laufzeit zu verlängern

Wer hätte damals gedacht, dass die Stilllegung der acht ältesten Reaktoren ausreichen würde, um den Widerstand weitgehend zu befrieden? Dass es sogar gelingen würde, den übrigen eine Bestandsgarantie von bis zu einem Jahrzehnt zu verschaffen?
Und dass die Brennelementfabrik in Lingen und die Urananreicherung in Gronau, die jeweils von erheblicher internationaler Bedeutung sind, unberührt bleiben könnten? Doch so ist es. Bis heute versorgt die Anlage in Lingen neben vielen anderen AKW weltweit z. B. auch die rissigen belgischen Reaktoren Tihange und Doel mit Brennelementen. Bis heute blieben die Kernforschungszentren, die mit enormem finanziellen Aufwand an zukünftigen Reaktorlinien forschen und die atomtechnische Ingenieurscommunity am Leben halten, ungeschoren. Und 19 Jahre nach dem Beginn der verschiedenen Atomausstiege und -konsense liegt Deutschland auch bei der installierten nuklearen Kraftwerksleistung immer noch auf Platz drei im europäischen Vergleich.
Eine Reihe von Anti-Atom-Gruppen halten inzwischen auch eine Laufzeitverlängerung für AKW über 2021/22 hinaus für wahrscheinlich. Um zu verstehen weshalb, lohnt es sich, neben den aktuellen Debatten auch die innere Logik des Atomausstieges von 2011 genauer unter die Lupe zu nehmen.

Für die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung war es nach Fukushima notwendig, die Proteste außerhalb und innerhalb der Parlamente möglichst rasch zu befrieden. Wie sehr Letzteres drängte, machte der Regierungswechsel im CDU-Kernland Baden-Württemberg deutlich: Die Welle der Empörung über den Super-GAU war maßgeblich dafür verantwortlich, dass Winfried Kretschmann erster grüner Ministerpräsident wurde. Den heutigen Kohleprotesten ähnlich, bedrohte der bis weit ins bürgerliche Lager reichende Zweifel an der herrschenden Energiepolitik die Machtbasis der CDU.

Geschickte Manöver

Angela Merkel gelang es zunächst, durch die Stilllegung einer Reihe sehr alter und in der Kritik stehender Reaktoren (z. B. Biblis und Krümmel) dem Wunsch einer Bevölkerungsmehrheit nach AKW-Abschaltungen nachzukommen. Darüber hinaus nahm ihre Regierung die kurz vorher beschlossenen Laufzeitverlängerungen auf die Linie des rot-grünen Atomkonsenses zurück und damit der parlamentarischen Opposition wirkungsvoll den Wind aus den Segeln.

Aber auch die Befürworter der Atom­anlagen wurden bedient, denn drittens stellte der sog. Atomausstieg auch eine Bestandsgarantie und Planungssicherheit für die wichtigsten Leistungs­reaktoren der Stromkonzerne dar. Mit Laufzeitverlängerungen von zwei bis fünf Jahren für die jüngsten Reaktoren wurden die wegfallenden Kraftwerks­kapazitäten der alten und kleineren Reaktoren nämlich weitgehend kompensiert.
Für die Energiewirtschaft war das ein äußerst glimpfliches Ergebnis, mit dem nach einem Dreifach-GAU nicht unbedingt zu rechnen gewesen war. Doch es gab noch etwas on top: Mit dem Beschluss, die sechs leistungsstärksten Reaktoren (Brokdorf, Grohnde, Lingen, Neckarwestheim 2, Gundremmingen C und Isar 2) erst rund um das Wahljahr 2021 innerhalb von 12 Monaten vom Netz zu nehmen, wurde ein politischer Möglichkeitsraum eröffnet: der des Weiterbetriebs. Dass er erfolgen wird, ist nicht garantiert, aber der zukünftigen Bundesregierung hält diese Datierung ein Hintertürchen offen, um den Ausstieg je nach Opportunität in Frage zu stellen.

Herbeigeführte Sachzwänge

Schaut man sich die energiepolitischen Rahmenbedingungen im Jahr 2019 an, so steht außer Zweifel, dass dieses Hintertürchen inzwischen zum Scheunentor ausgebaut worden ist. Hierfür brauchte es lediglich eine frühzeitig begonnene Politik der Unterlassung und Behinderung von energiepolitischen Veränderungen mit dem Ziel, die Stilllegung der Reaktoren 2021 als irrational und technisch gar nicht machbar beschreiben zu können. Diese Obstruktionspolitik wird in vielen Bereichen seit Jahren und mit zunehmender Heftigkeit umgesetzt. Es werden „Sachzwänge“ herbeigeführt, die einen Weiterbetrieb der AKW nahelegen. So blockierte die Bayerische Landesregierung den für den Nord-Süd-Transport großer Mengen an Windstrom notwendigen Ausbau von Stromnetzen von Beginn an.

Nach Auskunft der Bundesnetzagentur waren im dritten Quartal 2018 von den notwendigen 7700 Kilometern neuer Stromleitungen lediglich 4600 Kilometer in Planungsverfahren, 1800 genehmigt und erst 950 tatsächlich gebaut. Ein Netzausbau, der den Ansprüchen des Atomausstieges und der Energiewende gerecht wird, ist bis 2022 vollkommen unrealistisch geworden. Auch die Mitte des Jahrzehnts gilt mittlerweile als recht ambitioniertes Ziel.

Im Bereich der Energiewende sieht es nicht besser aus. Nach einem fulminanten Start mit einem Zubau von Windkraftanlagen mit bis zu 4600 MW Leistung jährlich wurde vom Bundestag und der Bundesregierung mit geradezu brutalen Mitteln der Ausbau der Regenerativen zum Erliegen gebracht. Mit mehreren drastischen Absenkungen der Einspeisevergütungen für Wind- und Solaranlagen sowie überbordend bürokratischen Ausschreibeverfahren attackierte man dann vor allem die Windenergie, die nur zu einem geringen Anteil im Besitz der großen Stromkonzerne ist (rund 5 %). Das Ergebnis: Im ersten Halbjahr 2019 wurden nur noch 85 Windräder in der gesamten Bundesrepublik aufgebaut. Da aber im gleichen Zeitraum 51 Windräder abgebaut wurden, bleibt netto lediglich ein Zuwachs von 34. In Bayern und fünf weiteren Bundesländern wurde im ersten Halbjahr 2019 kein einziges Windrad errichtet.

Dies hat zur Folge, dass in den Jahren 2016 und 2017 nach Angaben der IG Metall Küste rund 26.000 Arbeitsplätze in der Windindustrie verloren gingen. 2018 wurden weitere 3000 Arbeitsplätze gestrichen, bis schließlich im September 2019 mit Senvion ein großer Player in Konkurs ging.

„Deutschlands ungeliebte Klimaschützer“

Entgegen aller klimapolitischer Sonntagsreden lässt sich Ende 2019 festhalten: Die regenerativen Energien werden die Leistungskapazitäten der sechs größten AKW, die in den nächsten drei Jahren stillgelegt werden sollen, kaum ersetzen können. Die Bühne für das Comeback der Atomkraft ist bereitet. Und auch im Orchestergraben tut sich bereits etwas.
Nachdem zunächst VW-Chef Herbert Diess in der Berliner Zeitung „Der Tagesspiegel“ provokativ einen Ausstieg aus dem Ausstieg forderte, bliesen auch der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Fuchs (im „Cicero“) und der Kuratoriumsvorsitzende der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und ehemalige SPD- Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (in „Die Welt“) in dasselbe Horn. Etwas zarter regte zuletzt Ende September auch der CDU-Landwirtschaftsminister von Baden-Württemberg, Peter Hauk, an, zu Gunsten eines schnelleren Kohleausstieges den Atomausstieg noch einmal zu überdenken.
Das Klima-Argument ist dabei immer Teil der Pro-Atom-Orchestrierung und inzwischen bereits ein Klassiker. Bereits zu Zeiten der durch Schwarz-Gelb initiierten Laufzeitverlängerung 2010/2011 verpassten die Betreiber und das deutsche Atomforum den Reaktoren mit ihrer Kampagne „Deutschlands ungeliebte Klimaschützer“ ein neues Image. Sie folgten dabei dem Rat von Politstrategen wie etwa der Consulting-Firma PRGS. Diese empfahl einem Stromkonzern angesichts des massiven Imageverlustes, die Atomenergie mit dem positiv besetzten Klimaschutz zu verbinden und diese Position von verschiedenen Akteuren aus Parteien, Wirtschaft und gezielt ausgewählten Medien vertreten zu lassen, statt selbst die Initiative zu ergreifen.

Dass diese Marschrichtung offenbar weiter verfolgt wird, zeigt das im Unterschied zu 2010/11 heute deutlich zurückhaltendere Auftreten der Betreiberunternehmen Eon, RWE und EnBW. Sie lehnten die Idee einer Laufzeitverlängerung sogar einmütig ab. Der Ausstieg aus der Kernenergie sei im politischen und gesellschaftlichen Konsens beschlossen und gesetzlich klar geregelt. Man will sich dieses Mal offenbar lieber bitten lassen, statt sich mit A-Werbung selbst einen Imageschaden zuzufügen. Und wartet mit der Vorfreude auf die Gewinne aus dem Weiterbetrieb, bis der Konsens zerbröselt ist und Fragen wie „Würden Sie für das Erreichen der 2030-Klimaziele den zeitlich begrenzten Weiterbetrieb von AKW hinnehmen?“ mehrheitlich bejaht werden. Das kann schneller gehen als Viele meinen.