Leben in die Straßen bringen

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Der schachbrettartige Aufbau Barcelonas hat den Stadtplaner Salvador Rueda zum Konzept des Superblocks inspiriert.
Foto ▸ csm_Agencia_d_Ecologia_Urbana_de_Barcelona

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Begonnen als Nachbarschaftsinitiative hat sich der Superblock in Barcelona seit 2015 zu einem stadtweiten Umbauplan entwickelt.
Foto ▸ csm_Barcelona_Tim_Schwendy

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Statt Stress durch Lärm, Hitze und Abgase bieten jetzt autofreie, begrünte Bereiche eine hohe Aufenthaltsqualität für die Anwohner*innen.
Foto ▸ Jannis Pfendtner

Ein Leipziger Verein lädt die Nachbarschaft zu drei Tagen „partiellen Straßensperren und deren Wirkung auf die städtische Aufenthaltsqualität“ ein. In Wiesbaden werden einige Stadtteile kurzzeitig für „Musik und Yoga statt Autoverkehr“ umgewidmet. Und in der Hauptstadt Berlin läuft gleich eine ganze Kampagne, die viele nachbarschaftliche Initiativen gründen will, um die Stadtteile verkehrsberuhigter und nachbarschaftlicher zu gestalten. Beispiele wie diese gibt es aktuell viele. Eine neue Idee aus Barcelona ist in kürzester Zeit so eingeschlagen, dass international und auch in Deutschland in vielen Städten darüber diskutiert wird. Es gründen sich Initiativen, Gemeinderäte beraten darüber und entwerfen Pilotprojekte. Diese Idee nennt sich Superblock. Sie kommt aus einer der berühmtesten Städte Europas: Barcelona.
 
Barcelona ist zwar weltbekannt für seine Architektur, wie des Modernisme Antonio Gaudís, Kultur und „Lebensgefühl“, doch die Stadt bringt auch einige altbekannte Probleme mit sich: Intensiver Autoverkehr, viele Abgase und große Hitze – im Sommer bis tief in die Nacht – zehren an der Gesundheit und den Nerven der Bewohner*innen. Die breiten Straßen werden vom Autoverkehr dominiert. Dazu kommen sehr wenige Grün- und Erholungsflächen, in der die urbanen Bewohner*innen Abwechslung finden können. Nur in wenigen Orten Europas leben so viele Menschen auf so wenig Raum wie in Barcelona.

Was ist denn ein Superblock?

Der schachbrettartige Aufbau Barcelonas hat den ökologisch geprägten Stadtplaner Salvador Rueda inspiriert, das Konzept des Superblocks zu entwickeln. Die Idee ist einfach, hat aber große Auswirkungen. Außerhalb der Superblocks, auf den breiten Hauptstraße, soll der Verkehr weiterhin möglichst flüssig fließen können. Ein Unterschied zum früheren Zustand ist dabei, dass Schnellbusse Vorrang bekommen und eine vernetzte und gut ausgebaute Radinfrastruktur geschaffen wird.
Der Clou liegt aber in den einzelnen Nachbarschaften, die zu Superblocks ausgebaut werden. Hier dürfen zwar einzelne Autos weiterhin die Häuser anfahren, um beispielsweise eine gehbehinderte Person nach Hause zu bringen oder um die Wege für Feuerwehr und Rettungsdienste freizuhalten. Doch der allgemeine Autoverkehr wird unterbunden. Darüber hinaus haben Fußgänger*innen meist Vortritt im Superblock.

Erreicht wird dies durch sogenannte Diagonalsperren: Poller oder massive Pflanzenkübel, die die  Kreuzungen innerhalb der Superblocks für den Autoverkehr beschränken. So werden aus gefährlichen Kreuzungen ruhige Plätze, die in der Folge völlig neu gestaltet werden können. Wenn die verkehrstechnischen Umbauten abgeschlossen sind, werden in einer zweiten Phase versuchsweise bestimmte Elemente wie Pflanzen, Sitzbänke oder Spielgeräte aufgebaut. In der nächsten Zeit sollen die Bewohner*innen die Möglichkeit haben, ihre Straßen und Plätze neu zu entdecken. Erst danach wird über Evaluationen und Beteiligungsprozesse entschieden, wie eine längerfristige Gestaltung aussehen soll.

Die Stadt als Haus für alle

Salvador Rueda will damit die Grundlage schaffen, dass der städtische Raum nicht mehr nur der Fortbewegung dient, sondern wieder zum ‚Haus für alle‘ wird, zum gemeinsamen Raum für Austausch, Erholung und zum Verweilen, Kultur, Kunst und Demokratie.

Nach Ruedas Philosophie braucht es eine humanistische Neudefinition der städtischen Räume, die die Menschen nicht mehr zu (gestressten) Fußgänger*innen degradiert, sondern ihnen erlaubt, wieder zu Bürger*innen ihrer Stadt zu werden. Die Stadt soll ein Ort des Zusammentreffens, des Austausches, des gegenseitigen Erlebens und letztendlich der Demokratie werden.

Die Erzählungen eines begeisterten Anwohners scheinen die Idee zu bestätigen: „Ich hätte nie gedacht, dass sich mein Leben durch den Superblock so stark verändern würde. Denn heute findet die Hälfte meines Lebens direkt vor meiner Tür und im Superblock statt.“ Und er fügt hinzu: „Durch den Superblock haben wir angefangen uns zu treffen, uns wieder zu erkennen und zu denken: Ach, wir mögen das!“  

Während der soziale Aspekt oft im Vordergrund steht, wie schon der Slogan Barcelonas „Lasst uns die Straßen mit Leben füllen“ zeigt, soll der Superblock aber noch viel mehr positive Veränderungen bringen: einerseits deutlich weniger  Lärm, Hitze und Abgase, andererseits mehr Bewegung für die Menschen. Fahrradwege, fußgängerfreundliche Nachbarschaften sowie Sport- und Spielmöglichkeiten im Superblock bestärken die Menschen aktiv Zeit in ihrer Umgebung zu verbringen.

Mehr Straßengrün kann nicht nur die biologische Vielfalt in der Stadt erhöhen, sondern trägt auch über Verschattung und höhere Luftfeuchtigkeit zur zur höheren Aufenthaltsqualität bei. Für viele Bewohner*innen des Superblocks wird das eigene Fahrrad oder die nächste Bushaltestelle zukünftig deutlich näher sein, als das außerhalb geparkte Auto. Und wer zum Abendessen in einen Superblock eingeladen wird, überlegt sich zweimal, ob sie mit dem Auto kommt.   

Die beiden abstrakten Begriffe des Klima­jargons „Mitigation und Adaption“ werden im Superblock greifbar: Während die Förderung von klimaneutralen Fortbewegungsweisen ein konkreter Beitrag gegen die Verschärfung der Klimakrise ist, können weniger Versiegelung, weniger hitzefördernde Abgase und mehr Stadtgrün als Klimaanpassung dabei helfen auch durch extreme Hitzetage zu kommen.

Der Superblock als Baustein für Gerechtigkeit

Was als kleinteilige Vorschläge für einzelne Nachbarschaften begann, hat sich unter der Regierung von Barcelona en Comu (BenC, Barcelona Gemeinsam) seit 2015 zu einem stadtweiten Umbauplan entwickelt, der über Jahrzehnte hinweg das Gesicht der Stadt verändern könnte. Die lokale Partei BenC entstammt den Protesten und Besetzungen, die infolge der Wirtschaftskrise und der massiven Kürzungspolitik 2011 entstand.

Seit BenC 2015 überraschend die Wahlen gewann und die Bürgermeisterin stellt, hat sie eine ungewöhnliche Reform angestoßen. Ihr Anspruch ist  Ökologie, soziale Politik, Feminismus und die Förderung von nachbarschaftlicher Organisierung zusammen zu denken.

Dabei bezieht sich Barcelona jetzt auch auf Klimagerechtigkeit: Es wird angeprangert, dass gerade die ärmeren Teile der Bevölkerung unter zunehmenden Hitzewellen und schlechterer medizinischer Behandlung leiden müssen. Denn statistisch gesehen leben die prekären Schichten häufiger an viel befahrenen Straßen, haben weniger Wohnraum, seltener Gärten oder gar Ferienhäuser auf dem Land.

Schon allein die Infrastruktur spielt also eine große Rolle bei Gerechtigkeitsfragen: Denn wenn sich überhitzte, asphaltierte Kreuzungen mit großer Lärm- und Luftbelastung zu Freiräumen mit Bäumen und Hochbeeten, kostenlosen Sitzgelegenheiten und Spielmöglichkeiten entwickeln, profitieren vor allem diejenigen, die sich den teuren Urlaub im Sommer oder das Freizeitparadies am Stadtrand nicht leisten können.

Probleme beim Superblock

Und ja, wenn es um das Auto geht, gibt es natürlich auch in Barcelona Ärger und Protest. Grundsätzlich wollen manche einfach die Straßen für den Verkehr freihalten. So erzählt ein erboster Anwohner: „Wir wollen nicht, dass sie all dieses Zeug auf die Straßen tun, Kinderspiele und so weiter. Es gibt einfach keinen Grund all diese Sachen in die Mitte der Straße zu stellen.“ Auch wird sich immer wieder beschwert, dass der lokale Handel und die Gastronomie leiden würde. Die Erfahrung zeigt aber, dass die gestiegene Aufenthaltsqualität und kurze und sichere Wege viel eher für mehr Konsum direkt im Viertel sorgen.

Eine andere und sehr berechtigte Sorge ist, dass die ruhigen Straßen und begrünten Plätze dafür sorgen, dass Wohnraum noch viel teurer wird als ohnehin schon. Für Immobilienunternehmen könnte dies eine einfache Möglichkeit darstellen, die Preise zu erhöhen, wenn die Umgebung mehr Ruhe ausstrahlt und als schöner wahrgenommen wird.

Die Antwort Barcelonas ist, den Superblock in der ganzen Stadt einzuführen: Damit wollen sie der Trennung in „gute Stadtteile“ mit – und „schlechte“ ohne Superblock gar nicht erst zulassen. Weil der Superblock nicht alles lösen kann, versucht Barcelona auch mit Mietdeckeln und sozialem Wohnungsbau mehr für Gerechtigkeit zu tun.        

Mobilitätswende mit Freude

Barcelonas Stadtpolitik ist ein spannendes Beispiel dafür, dass Veränderungen nicht immer langsam und schleichend kommen müssen. Angesichts von Klimakrise und fossilen Strukturen, die in kürzester Zeit überkommen werden müssen, braucht es mutige Modelle für einen Wandel. Während viele sich in der Mobilität noch immer jedem Wandel, der über die Änderung von Verbrenner- zu Elektroauto hinausgeht, versperren, können Modelle wie Barcelona zeigen, dass mehr möglich ist. Verbunden mit einer Vision – mehr Gerechtigkeit, bessere Gesundheit, angenehme Gesellschaft draußen in der Nachbarschaft – muss die Abkehr von der Auto-Gesellschaft in der Metropole vielleicht gar nicht wehtun. Die Begeisterung, die der Superblock in vielen Städten in der Welt hervorruft, signalisiert den Wunsch nach Veränderung. Aus dunklen zugeparkten Straßen können Fahrradwege, blühende Beete und Nachbarschaftsfeste werden.

 
Jannis Pfendtner beschäftigte sich in seiner Masterarbeit mit dem Konzept des Superblocks als Stadtentwicklung in Zeiten der Klimakrise. Heute arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leuphana Universität Lüneburg zu nachhaltiger Raumnutzung. Von 2016 bis 2018 war er Waldreferent bei ROBIN WOOD