Denn sie wissen nicht,was sie tun

Als das sogenannte 1.5-Grad-Ziel im Dezember letzten Jahres auf der Klimakonferenz der Vereinten Nationen in den Vertrag von Paris aufgenommen wurde, war der Jubel groß im Lager der verletzlichen Staaten und ihrer UnterstützerInnen aus der NGO- und Think-Tank-Szene. Offen bleibt jedoch die Frage,wie diese Verschärfung der Ambition mit der realen politischen Situation in Einklang zu bringen ist. [Ein Beitrag in unserer Debattenreihe „Climate Justice how? – Die Klimagerechtigkeitsbewegung nach dem Pariser Abkommen“]

Seit langem ist eine Forderung der kleinen Inselstaaten und anderer vom Klimawandel besonders betroffener Länder, aber auch vieler Umweltgruppen und WissenschaftlerInnen, die Grenze für „gefährlichen” Klimawandel auf 1.5 Grad abzusenken. Dass nun die Forderung, den Anstieg der globalen Erwärmung auf deutlich unter 2 Grad zu halten, und Anstrengungen zu unternehmen, die Erwärmung auf 1.5 Grad zu begrenzen, tatsächlich Eingang in den Vertrag von Paris gefunden hat, führte bei vielen Beteiligten zu Freudentränen– und zu neuer Hoffnung, dass ihre Belange nun endlich von der internationalen Staatengemeinschaft ernst genommen würden.

Allerdings steigen die globalen Emissionen nach wie vor an, und wir befinden uns – ohne zusätzliche Klimaschutzanstrengungen– eher auf einem Erwärmungspfad Richtung 3 bis 4 Grad zum Ende des Jahrhunderts. Die bisher beim Klimasekretariat der Vereinten Nationen hinterlegten nationalen Klimaschutzabsichten (NDCs) bis 2030 führen bei Fortschreibung nach bisherigen Schätzungen zu etwa 2.5 bis 3 Grad Erwärmung,der Pfad zu 1.5 Grad wird mit diesen selbst auferlegten Zielen definitiv verlassen.

„Jetzt ein 1.5–Grad-Ziel? Wissen denn die Delegierten und NGO-Vertreter, was sie da beschlossen haben?“



Nicht nur angesichts dieser Diskrepanz rieben sich insbesondere die mit Klimaschutzstrategien befassten WissenschaftlerInnen ob des Ergebnisses von Paris verwundert die Augen.Bereits zur Veröffentlichung des fünften Sachstandsberichtes des Weltklimarates IPCC (Intergovernmental Panel on ClimateChange) im Jahr zuvor tobte eine Diskussion darum, ob das 2-Grad-Limit überhaupt noch zu erreichen sei. Dem Weltklimarat, der dies bejaht, wurde vorgeworfen, seine Ergebnisse auf komplett unrealistische Annahmen sowie unausgereifte bzw. nicht-existente Technologien zu stützen. Und jetzt ein1.5-Grad-Ziel? Wo zuvor schon das 2-Grad-Limit für wahlweise politisch tot oder technisch nicht machbar erklärt wurde? Wie kann das gehen? Wissen denn die Delegierten und NGO-VertreterInnen,was sie da beschlossen haben?

Jenseits aller Machbarkeits- und Kostendebatten ist es zunächst wichtig, die politische Wirkung des 1.5-Grad-Ziel anzuerkennen. Hier ist der Beschluss dieses Ziels an Bedeutung kaum zu überschätzen. Er zeigt, dass wissenschaftsbasierte Risikoanalyse nicht dem ökonomischen Kalkül der großen Emittenten geopfert wird. Er soll signalisieren, dass das Existenzrecht der kleinen Inselstaaten nicht zur Verhandlung steht und nicht zuletzt, dass das 2-Grad-Limit eine obere Schranke ist, die nicht erreicht werden darf. „Deutlich unter 2 Grad“ schließt viele bisherige Pfade aus, die 2 Grad mit nur 50-prozentigerWahrscheinlichkeit oder mit einem deutlichen „overshoot“ (als oder temporären Überschreitung von 2 Grad) erreichen würden. Es betont die Dringlichkeit sofortigen und umfassenden Handelns und macht klar: Abwarten kann keine Option sein.

„Fünf weitere Jahre mit den heutigen Emissionen und wir werden das 1.5-Grad-Ziel wohl sicher überschreiten.“



So begrüßenswert das 1.5-Grad-Ziel also sowohl aus politischer Sicht als auch vom Standpunkt der Schadensbegrenzung und Risikominimierung ist, muss aber doch die Frage gestellt werden, welche Konsequenzen sich aus diesem verschärften Anspruch ergeben. Nach dem sogenannten „Budget-Ansatz“besteht eine quasi-lineare Beziehung zwischen dem insgesamt seit der Industrialisierung ausgestoßenen Kohlendioxid (kumulative Emissionen) und dem Temperaturanstieg im Klimasystem.Ausgehend von den Zahlen des IPCC dürften für eine Zwei-Drittel-Chance, die Erwärmung unter 1.5 Grad zu halten, ab 2016 global noch etwa 200 Milliarden Tonnen Kohlendioxid (Gt CO2) ausgestoßen werden. Gemessen an den heutigen Emissionen von jährlich knapp 40 Gt CO2 sind das noch etwa fünf Jahre. Sämtliche danach anfallenden Emissionen müssten durch die Verwendung sogenannter Negativemissionstechnologien wieder aus der Atmosphäre entfernt werden. Beim 2-Grad-Limit verbleiben bei gleicher Wahrscheinlichkeit immerhin noch etwa 800 Gt CO2 – auch das ist mitnichten komfortabel.

Schon die Annahmen, die den derzeit diskutierten 2-Grad-Szenarien zu Grunde liegen, sind extrem ehrgeizig, was die Ausbaugeschwindigkeit von Erneuerbaren Energien, Effizienzgewinne und nicht zuletzt politische Umsetzung und globale Kooperation angeht. In vielen Modellen wird zudem aus Gründender Kostenoptimierung eine weitreichende Nutzung der umstrittenen CCS-Technologie (Carbon Capture and Storage:Kohlendioxidabscheidung und Speicherung) zugrunde gelegt. Bei den 2-Grad-Szenarien im letzten Bericht des Weltklimarats sind dies zwischen 15 und 35 Gt CO2 im Jahr 2100, die zunächst zur „klimafreundlichen“ Nutzung fossiler Energieträger und später zur Erzeugung negativer Emissionen eingesetzt werden.

Nun kann man an den komplexen Computer-Modellen, die diesen Szenarien zugrunde liegen, vieles in Frage stellen: Inwiefern geben sie die möglichen Ausbaupfade bei Erneuerbaren Energien realistisch wieder? Sind sie ökonomisch für die Problematik überhaupt geeignet? Wie sinnvoll ist der Ansatz der globalen Kostenoptimierung? Und werden die Möglichkeiten berücksichtigt, die in gesellschaftlichem Wandel hin zu nachhaltigeren Konsummustern stecken? Noch grundsätzlicher könnte man fordern, die Modelle müssten technologische oder gesellschaftliche Brüche miteinbeziehen,das Wachstumsparadigma überwinden und Verteilungsfragen adressieren.

Dies alles sind wichtige Punkte, die in der wissenschaftlichen Literatur und der politischen Öffentlichkeit mittlerweile ansatzweise diskutiert werden. An dem fundamentalen Problem, dass wir das CO2-Budget für 1.5 Grad so gut wie aufgebraucht haben, führt diese Debatte allerdings nicht vorbei. Das CO2-Budget ergibt sich aus grundsätzlichen, physikalischen Zusammenhängen im Erdsystem – und die sind weder von unserem Wirtschaftssystem noch von den ökonomischen Modellen abhängig.

Werfen wir also einen kurzen Blick auf die bereits erwähnten sogenannten Negativ-Emissionstechnologien, die für die gängigen 2-Grad-Szenarien ebenso bedeutend sind wie für die1.5-Grad-Szenarien unumgänglich: Am weitesten verbreitet ist neben der Schaffung von sogenannten Senken, also das Aufforsten, Wiedervernässen von Feuchtgebieten, Verbesserndes Humusgehalts landwirtschaftlicher Böden etc., die Kombination von Bioenergie mit Kohlendioxidabscheidung und Speicherung (BECCS). Die dafür in den Modellen vorgesehenen Landflächen sind teilweise immens und stehen daher in direkter Konkurrenz zur Lebensmittelproduktion. Großmaßstäbliche Landnutzungsprojekte sind zudem oft mit Eigentumskonflikten verbunden, der Verdrängung von KleinbäuerInnen oder Indigenen, steigenden Bodenpreisen sowie Konflikten um den Zugang zu Wasser. Andere Technologien, wie „direct air capture“ (der Entzug von CO2aus der Luft durch chemische Verfahren plus CCS), „enhanced weathering“ (die Nutzung von Verwitterungsprozessen bei Gesteinen) oder Ozeandüngung weisen ebenfalls Risiken auf, sind aufwändig, unausgereift und teilweise sehr teuer. Eine nachhaltig umsetzbare Technofix-Option ist derzeit nicht in Sicht.

Obwohl die Debatte um negative Emissionen nicht unbedingt neu ist, scheint sie sich nur sehr langsam ihren Weg in die Umweltbewegung zu bahnen. Spricht man mit deren VertreterInnen,so scheint die Einstellung vorzuherrschen, 100 Prozent Erneuerbare Energien würden alle Probleme lösen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.

Tatsächlich ist die globale Energiewende momentan – neben dem Stopp der Entwaldung in den Tropen – das dringendste politische Projekt, und erneuerbarer Strom wiederum ist die Voraussetzung für die Dekarbonisierung vieler anderer Sektoren wie Gebäude oder Verkehr. Den kostspieligen und politisch fatalen lock-in: also die langfristige Festlegung auf fossile Technologien aufgrund hoher Investitionen in langlebige Infrastruktur wie Kohlekraftwerke, Gaspipelines oder Ölplattformen, gilt es unbedingt zu vermeiden. Ähnliche Problematiken gibt es auch im Städtebau und bei Verkehrskonzepten.

Dabei sind die Herausforderungen für eine globale Wende im Energie- und Infrastrukturbereich gewaltig – selbst wenn die Industrieländer sich zu ehrgeizigen Dekarbonisierungsplänen entschließen würden: In den nächsten 12 bis 15 Jahren werden etwa eine Milliarde Menschen vom Land in die Städteziehen: etwa drei Viertel von ihnen im globalen Süden. Gleichzeitig haben vor allem in Afrika und Südasien immer noch 1,2 Milliarden Menschen keinen Zugang zu Elektrizität,und 2,7 Milliarden sind auf Biomasse zum Kochen angewiesen.Gerade die Regierungen schnell wachsender Entwicklungs- und Schwellenländer setzen zur Energieversorgung auch auf die vermeintlich billigen fossilen Ressourcen.

Die Verbrennung fossiler Energieträger ist derzeit für etwa zwei Drittel der globalen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich.Das 100 % Erneuerbare-Lager vernachlässigt zum Teil, dass nicht nur der Energiesektor, sondern sämtliche treibhausgas-intensiven Wirtschaftszweige und Gesellschaftsbereiche für das 1.5-Grad-Ziel quasi mit sofortiger Wirkung umgebaut

werden müssten. Dabei gibt es Bereiche, in denen die Entstehung von Emissionen selbst mit 100 Prozent erneuerbarer Energieerzeugung nicht vermeidbar ist. Dies ist z.B. die Landwirtschaft, in der Methan und Stickoxide aus Düngung und Tierhaltung freigesetzt werden. Aber auch in der Industrie gibt es sogenannte Prozess-Emissionen, die sich zumindest nach heutigem Kenntnisstand nicht vermeiden lassen, etwa in der Zement- oder Stahlherstellung. Für Deutschland machen diese„unvermeidbaren“ Emissionen zur Zeit etwa 14 bis 15 Prozent der Treibhausgasbilanz aus. Wenn also Klimaneutralität hergestellt werden soll, ohne bestimmte Aktivitäten grundsätzlich einzustellen, müssten solche Emissionen durch den Entzug von CO2 aus der Atmosphäre ausgeglichen werden.

„Erforderlich ist eine beispiellose Umbaugeschwindigkeit in sämtlichen Bereichen, nicht nur im Energiesektor.“



Um das 1.5-Grad-Budget nicht zu überschreiten, müsste eine beispiellose Umbaugeschwindigkeit an den Tag gelegt werden. Bei Annahme linearer Reduktion müssten die globalen Emissionen ab sofort kontinuierlich um 10 Prozent pro Jahr sinken – und dies bei zugleich steigender Weltbevölkerung, anhaltendem Wirtschaftswachstum und einem nicht unerheblichen industriellen Einsatz für den Aufbau einer erneuerbaren Infrastruktur. Selbst der Zerfall der Sowjetunion und der nachfolgende Zusammenbruch der dortigen Industrie führte zwischen1990 und 1995 zu „nur“ 5 bis 6 Prozent Emissionsrückgang pro Jahr. Im Gegensatz dazu liegen die höchsten je beobachteten langfristigen Reduktionen der Treibhausgasemissionen bei funktionierenden Volkswirtschaften in der Größenordnung von jährlich 1,5 bis 2 Prozent.

„Die Umweltbewegung wird sich früher oder später mit der Notwendigkeit negativer Emissionen auseinandersetzen müssen.“



Diese Zahlen zeigen das enorme Ausmaß der Herausforderung, vor der wir stehen. Insbesondere wenn die mit der Dekarbonisierung verbundene gesellschaftliche Transformation mit angemessener politischer Partizipation und sozialer Abfederung einhergehen soll, wird dieser Prozess nicht in der gebotenen Schnelligkeit zu machen sein. Das heißt leider auch,dass die wünschenswerte Stabilisierung der Erwärmung bei 1,5 Grad selbst im Falle einer globalen „Superenergiewende“ kaum ohne die großmaßstäbliche Nutzung von Technologien zum Entzug von CO2 aus der Atmosphäre zu haben sein wird. Negativemissionstechnologien bringen jedoch ganz eigene Risiken mit sich. Eine Debatte um „1.5 versus 2 Grad“ ist dabei wenig zielführend, denn in beiden Fällen ist die anstehende politische Aufgabe die schnellstmögliche Umsetzung einer globalen Dekarbonisierung. Deren Dringlichkeit wird mit dem Anspruch, die globale Erwärmung auf maximal 1,5 Grad zu begrenzen, nur noch deutlicher. Trotzdem wird sich die Umweltbewegung früher oder später mit der Notwendigkeit negativer Emissionen auseinandersetzen müssen.
 

Gerrit Hansen hat zu beobachteten Klimawandelfolgen promoviert und am fünften Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC mitgewirkt. Sie arbeitet als Referentin für internationale Klimaschutzpolitik bei einer deutschen NGO.
Gerrit.hansen [at] alumni.tu-berlin.de

 

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