Rückblende: Baumbesetzung gegen S21 wurde vor 10 Jahren geräumt

Hubwagen räumt eine Baumbesetzung im Stuttgarter Schlossgarten

Polizei-Einsatz gegen S21 im Stuttgarter Schlossgarten: Nachdem die Sitzblockierer*innen in der Nacht geräumt waren, rückte am Tag darauf ein Hubwagen an, um die ROBIN WOOD-Baumbesetzung zu beenden
Foto ▸ Chris Grodotzki

Baumra¦êumung2.jpg

"Zurück blieb eine unglaubliche Verachtung für die Täter und ein Gefühl des Versagens, als ob ich nicht genug gekämpft hätte für diesen großartigen Baum, der mich so viele Nächte sicher getragen hatte."
Foto ▸ Chris Grodotzki

P1020908.JPG

Stuttgarter Schlossgarten im Sommer 2011
Stuttgarter Schlossgarten im Sommer 2011
Foto ▸ Eberhard Linckh

20220210_195946.jpg

S21-Baustelle heute im Februar 2022
S21-Baustelle heute im Februar 2022
Foto ▸ Eberhard Linckh

Zehn Jahre ist es her, dass in der Nacht vom 14. auf den 15. Februar 2012 mehrere Tausend Polizist*innen aufgeboten wurden, um die Einrichtung einer Baustelle für einen neuen, bis heute nicht fertiggestellten Bahnhof in Stuttgart durchzusetzen. Das Vorhaben: Der bestehende gut funktionierende, 16-gleisige Kopfbahnhof soll durch einen unterirdischen, achtgleisigen Durchgangs-Bahnhalt mit über 60 Kilometer langen Tunnelzufahrten ersetzt werden, um Platz für Immobilien zu schaffen.

ROBIN WOOD blickt zurück auf das einschneidende Datum der Parkzerstörung in der langen und bis heute anhaltenden Geschichte des Widerstandes gegen S21 – das größte und unsinnigste Bauprojekt der Deutschen Bahn:

Der Polizeisatz begann mitten in der Nacht. Bei nasskaltem Wetter umzingelten Polizeieinheiten das Baufeld für den Stuttgarter Tiefbahnhof. In Viererketten rückten die mit Helmen und Schlagstöcken ausgerüsteten Beamten in den Stuttgarter Schlossgarten vor, forderten Demonstrant*innen zum Gehen auf, trugen Sitzblockierer*innen weg und durchkämmten die Zelte des Widerstandsdorfes.

„Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen: Nässe, Kälte, gleißendes Flutlicht, Lautsprecherdurchsagen der Polizei. Bei Nichtbefolgen des um 2.30 Uhr ausgesprochenen Aufenthaltsverbots wurde uns die Anwendung des unmittelbaren Zwangs ankündigt. Zwei junge Polizisten trugen mich dann um fünf Uhr morgens zur Personalienfeststellung über die eisige Schneeschicht“, berichtet Parkschützerin Angelika Linckh in der Kontext Wochenzeitung.

Mehrere ROBIN WOOD-Aktivist*innen hatten zudem jahrhundertealte Platanen und eine Schwarzpappel im Schlossgarten besetzt, um sie vor der Fällung für den Bau eines verkehrspolitisch unsinnigen Bahnhalts zu bewahren.

„Oben auf einer selbstgebauten Plattform in der wunderschönen Pappel hatte ich es vergleichsweise komfortabel“, erinnert sich ROBIN WOOD-Aktivist Eberhard Linckh. „Eine Plane schützte gegen Regen und Schneefall, der Schlafsack war warm und trocken. Sogar geschlafen habe ich in dieser Nacht, zwischendurch nur von den Durchsagen der Polizei geweckt. Dann am nächsten Morgen wurde ich müde und irgendwie gelähmt von SEK-Beamten auf dem Baum festgenommen. Gelähmt auch davon, dass rings um mich herum schon eifrig die Kettensägen heulten und die Bäume fielen. Zurück blieb eine unglaubliche Verachtung für die Täter und ein Gefühl des Versagens, als ob ich nicht genug gekämpft hätte für diesen großartigen Baum, der mich so viele Nächte sicher getragen hatte."

Die Polizei hatte SEK mit Hubwagen eingesetzt, um die Baumbesetzer*innen zu räumen. Zwei Tage nach der Räumung waren die meisten großen Bäume bereits gefällt.

Die Fällung der jahrhundertealten Bäume im Schlossgarten war von Anfang an ein zentraler Punkt in der Auseinandersetzung um S21. Die vorhergehende Baumfällaktion in der Nacht zum 1. Oktober 2010 wurde bekanntlich durch den „Schwarzen Donnerstag“ vorbereitet und durchgezogen – nach martialischem Polizeieinsatz mit Schwerverletzten. Nach der Abwahl der CDU-Landesregierung zugunsten einer von den Grünen angeführten Landesregierung folgte eine scheinbar neue Qualität der Bürgerbeteiligung mit den drei Bestandteilen Schlichtung, Stresstest und Volksabstimmung, die sich jedoch als Akzeptanzbeschaffung auf falscher Grundlage entpuppte.

Der Schlichter Heiner Geißler hatte kurz zuvor erklärt, dass die Zusage der Bahn, für den Tiefbahnhof keine gesunden Bäume zu fällen, zentraler Punkt der Schlichtung war. Diese Zusage brach die Bahn. Zweiter zentraler Punkt der Schlichtungsvereinbarung war die im Stresstest nachzuweisende Kapazitätssteigerung durch den neuen Bahnhof. Diesen Nachweis hat die Bahn nie überzeugend erbracht. Und die Kostenangaben, Dreh- und Angelpunkt der Abstimmung, waren realitätsfern.

Sie laufen bis heute immer weiter aus dem Ruder. S21 wird mit 9,2 Milliarden Euro wohl mindestens noch mal eine Milliarde Euro teurer als zuletzt von der Deutschen Bahn AG veranschlagt. Ursprünglich waren die Kosten des seit 2010 im Bau befindlichen Projekt auf 2,6 Milliarden Euro beziffert worden.

Die Finanzierung von mehr als der Hälfte dieser nun veranschlagten 9,2 Milliarden Euro Gesamtkosten ist ungeklärt – das Gerichtsverfahren der Bahn gegen ihre Projektpartner wird dieses Jahr eröffnet.

Zwar sind Tunnel und Tiefbahnhofs-Gebäude inzwischen weit fortgeschritten, doch muss die Bahn – außer dem immer steiler werdenden Kostenberg – noch weitere riesige Schwierigkeiten überwinden:

  • Für die 60 Kilometer langen innerstädtischen Tunnel gibt es bis heute kein Brandschutz- und kein Rettungskonzept.
  • Offen ist, auf welche Weise die Strecke Zürich - Stuttgart zum neuen Bahnhof geführt werden kann. Die bisherige Strecke wird bald gekappt werden.
  • Weil der Tiefbahnhof zu wenig Kapazität hat, ist im Koalitionsvertrag der Landesregierung ein zusätzlicher sechsgleisiger, unterirdischer Ergänzungs-Kopfbahnhof vorgesehen mit weiteren 47 Tunnelkilometern. Die Finanzierung dafür ist unklar.
  • Die großartig versprochene Parkerweiterung ist mittlerweile von den Plänen verschwunden. Alle frei werdenden Flächen sollen bebaut werden.

Der Widerstand gegen das Milliardengrab S21 hat einen langen Atem. Heute findet in Stuttgart die 600. Montags-Demo gegen Stuttgart 21 statt.

Die Moderatorin Angelika Linckh zitiert Degenhardt: „Dass das nicht solche Geschichten bleiben, die man den Enkeln erzählen kann. Es gibt 'ne Menge Leute die hätten großes Interesse daran. (...) Ja, so hätten sie's gern, die Abgespeisten und die, die die Speisen verteilen. Aber wir werden sie enttäuschen!“