Ein Grundrecht auf Freiheit? Oder auf Klimagerechtigkeit?

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ROBIN WOOD protestiert im Februar 2020 gemeinsam mit Fridays For Future Hamburg für Klimagerechtigkeit

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ROBIN WOOD-Protest beim globalen Klimastreik in Aachen (Juni 2019)

„Bahnbrechend“, „epochal“ oder „wahrlich historisch“, so tönte es nahezu unisono am 29. April durch die deutsche Medienlandschaft. Die Rede ist vom Urteil des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts, das der Verfassungsbeschwerde mehrerer Klimaschützer*innen Recht gab. Die Richter*innen erklärten das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung in Teilen für verfassungswidrig. Das Verfassungsgericht hat festgestellt, dass sich mit der bisherigen Klimapolitik der Bundesregierung die Ziele des Pariser Klimaabkommens nicht erreichen lassen – es sei denn, ab 2030 würden alle Menschen in Deutschland eine "radikale Reduktionslast" ertragen, was es laut des Gerichts zu vermeiden gilt.

Im Pariser Klimaabkommen hat sich Deutschland dazu verpflichtet, die Klimaerwärmung "deutlich unter zwei Grad" zu halten und "Anstrengungen zu unternehmen", die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Ende 2019 trat das Klimaschutzgesetz der Großen Koalition in Kraft, welches den deutschen Beitrag zum Paris-Abkommen regeln sollte. Doch das Verfassungsgericht hat nun bestätigt, worauf Klimaaktivist*innen schon lange hinweisen: Das Gesetz hat Lücken. Bisher ist nicht klar, wie die Treibhausgasemissionen in Deutschland nach 2030 weiter sinken sollen, da Maßgaben für eine weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031 fehlen - obwohl Deutschland sich verpflichtet hatte, bis 2050 klimaneutral zu werden. Die richterliche Forderung an die Politik lautet: Nachbessern und auch gleich einen konkreten Fahrplan nachreichen. Bis Ende 2022 muss klar sein, welche Reduktionsziele für Treibhausgasemissionen für die Zeit nach 2030 gelten - und zwar insbesondere für den Energie-, Landwirtschafts-, Verkehrs- und Gebäudesektor.

Als hätten die Bundesministerien für Wirtschaft, Finanzen und Umwelt nur auf dieses Urteil gewartet, rückt Klimaschutz nun plötzlich auf Platz Eins ihrer wahlkämpferischen Agenden. Politiker*innen fast aller Parteien lobpreisen das epochale Urteil zum Klimaschutz aus Karlsruhe. Wenn plötzlich Olaf Scholz an Peter Altmaier zwitschert „Sind Sie dabei?“ und damit die richterlich geforderte Korrektur des Klimaschutzgesetzes meint, stellt sich die Frage, wo die beiden eigentlich die letzten Jahre gesteckt haben? Und auch, dass die Grünen in den Wahl-Umfragen derzeit vorne liegen, wirkt sich offensichtlich beschleunigend auf den öffentlich dargestellten Handlungswillen der derzeitigen Regierungsparteien aus.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist als Erfolg der Klimabewegung zu werten und zwingt die Politik zu entschlossenerem Handeln. Aber was bedeutet das Urteil tatsächlich für den Klimaschutz? Und wer stellt eigentlich die wichtige Frage nach Klimagerechtigkeit? Aus Klimagerechtigkeits-Perspektive gibt es zwei Aspekte, die wir kritisch sehen:

1) Die Urteilsbegründung zeigt: Das Bundesverfassungsgericht bezweifelt zwar, dass die Regelungen des Klimaschutzgesetzes bis 2030 den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Es beschränkt das Urteil aber dennoch auf die Zeit nach 2030 und erklärt allein diesen Teil für mit dem Grundgesetz unvereinbar. Begründet wird dies u.a. damit, dass der Gesetzgeber frühzeitig die Klimaschutzmaßnahmen für den Zeitraum nach 2030 erkennen lassen muss, damit sich Menschen und Unternehmen in Deutschland rechtzeitig darauf einstellen können. Auch wenn wir dem grundsätzlich zustimmen, ist gleichzeitig klar, dass die Reduktionsziele bis zum Jahr 2030 nicht ausreichen, um die Klimakrise zu bekämpfen. Es braucht bereits jetzt drastischere politische Maßnahmen, welche Einschränkungen für Menschen und Unternehmen mit sich bringen. Aus Klimagerechtigkeitsperspektive fällt dabei besonders auf, dass es in dem Urteil nur um Einschränkungen durch die zukünftig unvermeidlich strengeren Klimaschutzmaßnahmen, und nicht um Einschränkungen durch die Klimakrise selbst geht. Letztere haben aber deutlich schwerwiegendere Konsequenzen für das Leben der jetzigen und zukünftigen Generationen weltweit.

2) Die Verfassungsrichter*innen haben entschieden, dass das Klimaschutzgesetz die Freiheitsrechte kommender Generationen beschneidet. Das bedeutet, dass die Art und Weise wie wir gerade leben, reisen, heizen und wirtschaften, massiv in die Rechte junger und zukünftiger Generation eingreift. Wenn die Politik so weiter macht, werden nach 2030 deutlich drastischere Maßnahmen ergriffen werden müssen, die sich auf alle Bereiche menschlichen Lebens erstrecken und zudem immer dringender und kurzfristiger erbracht werden müssen, so das Gericht. Diese Maßnahmen würden laut der Richter*innen die zukünftigen Freiheiten der Beschwerdeführenden extrem einschränken. Generationengerechtigkeit ist ein zentraler Aspekt des Diskurses um Klimagerechtigkeit und des anhaltenden Protests vor allem der jüngeren Generationen für mehr Klimaschutz. Doch das Urteil und die öffentliche Begeisterung dafür lassen außer Acht, wieviele Menschen bereits jetzt weltweit negativ von den Folgen der Klimakrise betroffen sind. Für mehr globale Gerechtigkeit, ebenfalls zentrales Element von Klimagerechtigkeit, sorgt das Urteil also nicht. Dies wird auch dadurch deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht weitere Beschwerden von Personen aus Nepal und Bangladesch als unbegründet zurückwies, denn die Bundesrepublik habe im Ausland nicht dieselben Schutzmöglichkeiten wie in Deutschland. Dass das Gericht nun offiziell ein „Grundrecht auf Zukunft“ für die nächste Generation in Deutschland verteidigt, ist tatsächlich bahnbrechend. Doch wir müssen gleichzeitig das Grundrecht auf eine lebenswerte und sozial-ökologisch gerechte Gegenwart für alle Menschen einfordern – weltweit! Und dafür sorgt selbst das am Mittwoch verschärfte Klimaschutzgesetz bei weitem nicht konsequent genug.

Dennoch erzeugt das Urteil dringend notwendigen Druck auf die Regierung: Am Mittwoch beschloss das Bundeskabinett eine Verschärfung des Klimaschutzgesetzes und brachte damit neue Emissionsreduktionsziele auf den Weg. Die Ziele sehen bis 2030 eine Minderung der Treibhausgasemissionen um mindestens 65 Prozent im Vergleich zu 1990 vor. Bisher betrug das Ziel 55 Prozent. Außerdem soll Deutschland schon 2045 statt 2050 klimaneutral sein. Den größten Teil der neuen Einsparungen bis 2030 soll der Energiesektor bringen. Damit erscheint nun doch wieder in greifbarer Nähe, was die Klimagerechtigkeitsbewegung schon lange fordert: ein Kohleausstieg bis 2030 – also deutlich vor 2038, was die Regierung bisher als Ausstiegsdatum festgelegt hatte.

Strengere Emissionsreduktionsziele sind notwendig und wichtig, doch sie allein bewirken nichts, wenn sie nicht mithilfe entschlossener Maßnahmen wie einem früheren Kohleausstieg und einer konsequenten Mobilitätswende umgesetzt werden. Gerade im Wahljahr müssen wir also weiterhin Druck auf die Politik machen, damit es nicht bei wahlkämpferischen Lippenbekenntnissen bleibt und die tatsächliche Umsetzung der neuen Ziele auf den Weg gebracht wird. Fridays for Future protestierte vorgestern bereits vielerorts, um klar zu sagen: Klimaneutralität im Jahr 2045 ist zu spät – und fordert diese bereits in 15 Jahren ein, da das 1,5-Grad-Limit ansonsten nicht einzuhalten sei. "Wir müssen #In15JahrenAufNull – um das gerecht zu erreichen, brauchen wir sofort konsequente Maßnahmen“, so Fridays For Future am Mittwoch. In diesem Sinne: Lasst uns mit dem Klimaurteil im Rücken weiter für eine konsequentere Klimapolitik protestieren. Und zwar nicht (nur) weil wir unsere zukünftigen Freiheiten schätzen, sondern auch, weil wir für globale Gerechtigkeit im Hier und Jetzt kämpfen.