„In diesem Verfahren kriegen Sie keinen Verteidiger“
Am vergangenen Mittwoch besuchte ich einen Prozess gegen die Umweltaktivistin Cécile Lecomte. Dass Gerichte manchmal schwer nachvollziehbare Entscheidungen treffen, kenne ich ja: Aber das, was ich hier erlebte, hat mich schockiert. Der Richter hielt sich nicht ansatzweise an seine eigenen Gesetze. Grundsätze eines Rechtsstaats wie das Recht auf einen Verteidiger wurden völlig ignoriert, so sagte der Richter: „In diesem Prozess kriegen sie keinen Verteidiger.“
Ich dokumentiere hier die Pressemitteilung des Bündnis „Neckar castorfrei“:
Pressemitteilung des Bündnis Neckar castorfrei
Heilbronn. Am heutigen Mittwoch, den 11.04.2018 wurde in einem kafkaesken Prozess ein Urteil gesprochen, dessen Willkür kaum zu überbieten ist. In einem Verfahren gegen eine Umweltaktivistin, die an Protestaktionen gegen die Castor-Transporte von Obrigheim nach Neckarwestheim teilnahm, wurden die grundrechtlich geschützten Rechte von Beschuldigten vor Gericht von Richter Michael Reißer eklatant missachtet. Es war der Aktivistin nicht möglich, sich zu verteidigen. Nachdem sie und die Zuschauer*innen mehrmals aus dem Gerichtssaal entfernt wurden, führte der Richter den Prozess ohne die Beschuldigte fort und verurteilte sie schließlich am Ende zu Geldbußen.
Bereits am Morgen fand eine Mahnwache von Atomkraftgegner*innen vor dem Amtsgericht Heilbronn statt. Während unten am Boden Sprüche gegen Atomkraft gezeigt wurden, spannten Kletter*innen zwischen zwei Bäumen ein Banner gegen Atomtransporte. Die Situation vor dem Gericht war entspannt.
Im Gerichtssaal verhielt sich die Situation jedoch völlig anders. Wie im Folgenden dargestellt, wurden die gesetzlichen Bestimmungen zur Führung eines Gerichtsprozesses (Strafprozessordnung, kurz StPO), in der u.a. die Rechte von Beschuldigten festgehalten sind, schlichtweg ignoriert.
Die Atomkraftgegnerin musste sich vor Gericht völlig alleine verteidigen. Auf ihren mündlichen Antrag auf Zulassung eines Verteidigers entgegnete der Richter: „Sie bekommen in dieser Verhandlung keinen Verteidiger“. Ihren schriftlichen begründeten Antrag nahm der Richter erst recht nicht entgegen. Dies steht in Gegensatz zu § 137 StPO (Strafprozessordnung):
„Der Beschuldigte kann sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen.“
Außerdem wurden vom Richter Zeugen geladen, ohne dies der Beschuldigten vorher bekannt zu geben. Dadurch war eine Vorbereitung auf die Vernehmung der Zeugen nicht möglich. Die Beschuldigte hat erst während des Prozesses erfahren, dass Zeugen geladen sind und welche dies sind. Dies steht im Gegensatz zu § 222 StPO:
„Das Gericht hat die geladenen Zeugen und Sachverständigen der Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten rechtzeitig namhaft zu machen und ihren Wohn- oder Aufenthaltsort anzugeben.“
Unter anderem aufgrund dieser Fehler hat die Beschuldigte versucht, die Leitung der Verhandlung durch den Vorsitzenden (Richter) zu beanstanden. Dies steht ihr nach § 238 StPO zu:
„Wird eine auf die Sachleitung bezügliche Anordnung des Vorsitzenden von einer bei der Verhandlung beteiligten Person als unzulässig beanstandet, so entscheidet das Gericht.“
Ihre Beanstandung durfte sie aber nicht einbringen. Der Richter ging sogar soweit, die schriftlich formulierten Anträge nicht zu lesen, sondern ungesehen auf den Tisch der Beschuldigten zurückzulegen. Als diese versuchte, den Antrag mündlich zu verlesen, um damit ihre Rechte vor Gericht durchzusetzen, wurde sie des Saals verwiesen und schließlich von der Polizei mit Zwang aus dem Gerichtsgebäude gebracht. Aufgrund von Unmutsbekundungen seitens der Zuschauer*innen über diese Rechtsbrüche durch das Gericht, wurden auch diese durch eine Spezialeinheit der Polizei aus dem Gerichtsgebäude gedrängt. Die Verhandlung ging ohne Beschuldigte und ohne Wahrung der Öffentlichkeit weiter. Die Zeugen wurden in Abwesenheit der Beschuldigten vernommen. Die Aktivistin durfte danach in den Gerichtssaal wieder hinein. Sie durfte aber weiterhin keine Anträge stellen. Sie durfte nicht ein mal einen Befangenheitsantrag einreichen. Die Aktivistin quittierte schließlich die Urteilsverkündung mit Antiatomliedern und wurde erneut aus dem Saal entfernt.
Diese rechtswidrige Art der Prozessführung seitens Richter Reißer schockierte sowohl die beschuldigte Aktivistin als auch anwesenden Zuschauer*innen: „Es kann nicht sein, dass in einem Rechtsstaat in Gerichtsprozessen die Grundrechte nicht gewahrt werden. Wir werden und können uns das nicht gefallen lassen. Der Widerstand wird weiter gehen, ob auf der Straße, dem Wasser oder im Gerichtsgebäude“, sagte Julian Smaluhn, der der Verhandlung beiwohnte.
Die Aktivistin hat umgehend Rechtsmittel gegen das ergangene Urteil (200 Euro Bußgeld) eingelegt.